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BALTIKUM: KURZE UNABHÄNGIGKEIT DER BALTISCHEN STAATEN

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Baltikum: Kurze Unabhängigkeit der baltischen Staaten
 
Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde im Nordosten Europas der Kampf um eine neue Ordnung mit militärischen Mitteln bis 1920 fortgesetzt. Die Sowjetmacht, »Weiße« Russen, Finnen, Esten, Letten und Litauer sowie deutsche Freiwilligenverbände rangen um die Vormacht in der baltischen Region. Aus Friedensschlüssen mit der Sowjetmacht gingen schließlich nach den vorausgegangenen Unabhängigkeitserklärungen des Jahres 1918 die demokratischen Republiken Estland, Lettland und Litauen hervor. Die Gründungsphase zwischen 1918 und 1920 verbindet die drei baltischen Staaten, weniger hingegen ihre Geschichte vor 1918. Alle drei Staaten hatten es nach den kriegsbedingten Bevölkerungsverschiebungen und -verlusten sowie nach der Zerstörung der Industrien zunächst schwer, eine gefestigte Staatlichkeit nach innen und außen durchzusetzen. Alle drei Staaten begannen als liberale Verfassungsstaaten nach dem Vorbild der Schweiz und der Weimarer Republik, gestützt auf eine starke Legislative.Auf der Grundlage entsprechender Gesetze schufen die Parlamente Staaten, die sich auf selbstständige bäuerliche Wirtschaften stützen wollten und deshalb radikale Agrarreformen einleiteten. Besonders radikal wurde in Estland und Lettland der überwiegend deutsche Großgrundbesitz enteignet. In Estland verlor dieser 58 Prozent des gesamten Grund und Bodens zunächst vollständig an den Staat, der den größten Teil des Ackerlandes zumeist umgehend wieder an Neusiedler ausgab, um damit den Landhunger zu stillen. Auch Angehörige der Minderheiten konnten um maximal 50 Hektar nachsuchen, ebenso die ehemaligen Gutsherren. Allen drei Staaten war gemeinsam, dass sich das parlamentarische Vielparteiensystem mit wechselnden Regierungsmehrheiten nicht lange halten konnte. In Estland und Lettland regierten nationalliberal orientierte, von Intellektuellen bestimmte Parteien im häufigen Wechsel mit einer konservativen Agrarpartei und auch der Sozialdemokratie. In Litauen stand den Nationalisten, der Tautininkai-Partei, die katholisch geprägte Partei der Christlichen Demokraten gegenüber, die jedoch 1926 durch einen Staatsstreich von der Teilhabe an der Macht verdrängt wurde. Unter Präsident Antanas Smetona ging Litauen zur autoritären Regierungsweise über. Estland folgte 1934 unter Konstantin Päts, Lettland unter Karlis Ulmanis; beide Politiker kamen später in sowjetischer Haft um.
 
Der Erste Weltkrieg hatte mit seinen dramatischen Bevölkerungsverlusten den staatlichen Aufbau erschwert. Nach den Vorgaben des Völkerbundes wurden die Minderheiten geschützt. In Lettland war die Integration der überwiegend römisch-katholischen, zumeist aus ärmlichen ländlichen Verhältnissen stammenden Lettgaller schwierig. Der Zahl nach stellten die Russen in Estland mit 92 656 (1934) und Lettland mit 206 499 (1935) Personen jeweils die größte Minderheit, gefolgt von den Juden, die in Litauen mit Abstand die größte Minderheit mit 154 321 (1934 mit Memelgebiet) Personen stellten. Erst danach fiel die Zahl der Deutschen in Estland mit 16 346, in Lettland mit 62 144, in Litauen die der Polen mit 65 628 ins Gewicht; beide Minderheitengruppen gehörten der historischen Oberschicht an und waren deshalb besonders in Lettland und Litauen nicht leicht zu integrieren. Die Angliederung des Wilnagebietes 1920 an Polen mit der historischen litauischen Hauptstadt Wilna belastete die Beziehungen zwischen Polen und Litauen schwer.
 
Gesellschaftspolitisch förderten die neu gegründeten demokratischen Republiken den selbstständigen Bauern und den Unternehmer. In Estland wurde nur in 15,3 Prozent aller Unternehmen mit Lohnabhängigen gearbeitet. Hingegen gab es 74,4 Prozent Einmannbetriebe und 10,1 Prozent Familienbetriebe, zumeist im bäuerlichen Bereich. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen betrug in Estland 1922 65,9 und 1934 64 Prozent, in Lettland 1930 66,2 und 1933 65,2 Prozent, in Litauen 1923 sogar 78,9 Prozent. In Lettland, das wirtschaftlich und sozial führend war, wurde die 48-Stundenwoche 1918 gesetzlich festgelegt, Estland und Litauen konnten erst in den Dreißigerjahren folgen. Kranken- und Unfallversicherungsgesetze wurden nach und nach erlassen. In Lettland zum Beispiel wurden die Gewerkschaften faktisch zu Berufsverbänden, die von Arbeitskammern kontrolliert wurden. Staatliche Monopole und Zwangsgenossenschaften, die den Lettisierungstendenzen der Führung dienten, schränkten den Spielraum vor allem der deutschen und jüdischen Privatunternehmen ein. Die estnische Regierung war im Prinzip minderheitenfreundlich, jedoch im gesellschaftlichen Bereich auch auf die Sicherung des »Eigenständigen« bedacht. In Litauen bestimmte der Staat mit 62 Prozent des Aktienkapitals maßgeblich das wirtschaftliche Handeln. Mit der gesetzlich fixierten Enteignung des Großgrundbesitzes wurde von oben eine Agrarrevolution eingeleitet, die bisherigen Pächtern und Neusiedlern zugute kam, aber vor allem auch die Kriegsfolgen beseitigen und die neuen Staaten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig machen sollte. Besondere Anstrengungen wurden den Vermarktungsinstitutionen sowie dem Ausbau von Weiterverarbeitungsbetrieben gewidmet. Die Eingriffe des Staates durch Marktregulierung und Kreditvergabe waren erheblich. Auf den Ausbau der Infrastruktur wurde großer Wert gelegt, wobei vor allem Konsum- und Kreditgenossenschaften gefördert wurden, die schon im 19. Jahrhundert mit dem Ausbau der Nationalen Bewegungen verbunden gewesen waren.
 
Im Zentrum des baltischen Außenhandels stand der Butterexport. Die Industrieexporte bestanden aus Zement, Farben, Gummiprodukten, Eisen- und Glaswaren sowie Textilien. Deutschland und Großbritannien waren die Hauptabnehmer aller Exportgüter. Sehr wichtig für den Ausbau der Volkswirtschaften waren Importe von Maschinen vor allem aus Deutschland sowie von Nutzfahrzeugen aus Schweden. Der Handel zwischen den baltischen Staaten selbst spielte hingegen eine untergeordnete Rolle. Insgesamt haben die baltischen Staaten für den Industrieexport und seine Diversifikation letztlich mehr Geld aufgewendet als für die Agrarwirtschaft. Eine ausgefeilte Zollpolitik sollte die heimische Wirtschaft vor Billigimporten schützen und gleichzeitig die Importabhängigkeit drosseln. Folgen für Beschäftigung und Lebensstandard hatte die Weltwirtschaftskrise gebracht, sodass »Erziehungszölle« eingeführt wurden, um angesichts der Halbierung der Exporte die Einfuhr einzuschränken. Besonders schwierig gestalteten sich die Außenhandelsbeziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland, das im Rahmen des Vierjahresplanes ab 1936 die Abwicklung über ein Clearingkonto verlangte, auf dem die baltischen Staaten bald Überschüsse erzielten. Im Zeichen der durch Verschuldung ermöglichten forcierten deutschen Aufrüstung haben die baltischen Staaten ihre spätere Besetzung durch deutsche Truppen 1941 faktisch vorfinanziert.
 
Erst 1922/23 gelang es den baltischen Staaten, einen Staatshaushalt aufzustellen. Zu den schwierigsten Aufgaben gehörte die Festigung der eigenen Währung. Unmittelbar nach dem Krieg mussten verschiedene Zahlungsmittel in ein möglichst festes Verhältnis zueinander gebracht werden. Erst 1924 konnte in Lettland die neue Währung »LAT« eingeführt werden, in Litauen 1922 der »LITAS«. In Estland konnte 1928 aufgrund einer auf Vermittlung des Völkerbundes aufgenommenen Auslandsanleihe die Währung stabilisiert werden und die Estnische Krone als Zahlungsmittel eingeführt werden. Angesichts der Abkehr Großbritanniens vom Goldstandard 1931 steuerten die baltischen Staaten einen Deflationskurs, der die Wirtschaftstätigkeit bremste und der Arbeitslosigkeit Vorschub leistete. Erst mit einer Abwertung nach dem Beispiel Schwedens besserte sich die Lage für Außenhandel und Wirtschaft.
 
In Fragen von Bildung und Kultur stellten die baltischen Staaten nach ihrer Gründung hohe Ansprüche besonders an die kulturelle Leistungsfähigkeit der Mehrheitsvölker. In Litauen wurde 1922 die Universität Kaunas, in Lettland 1919 die Universität Riga gegründet. Auch in der alten Universität Tartu/Dorpat in Estland wurde bereits 1919 der akademische Unterricht wie auch das gesamte Schulwesen auf die Landessprache umgestellt. In Lettland waren bereits 1934 sieben Schulklassen obligatorisch, in Estland sechs, in Litauen nur vier. Dort konnte überhaupt erst 1928 eine gesetzliche Schulpflicht durchgesetzt werden. Alle drei baltischen Staaten ließen auch private Schulträger zu, was besonders den Minderheiten und der katholischen Kirche zugute kam. Die baltischen Staaten widmeten trotz erheblicher wirtschaftlicher Probleme im Schnitt 15 Prozent ihrer Staatshaushalte der Bildung und Ausbildung — im übrigen Europa waren es etwa 12 Prozent. Durch diese Kraftanstrengungen wurde jeweils eine unverwechselbare geistige Aufbruchstimmung und eine eigene kulturelle Identität verwirklicht, die Besetzung und Fremdherrschaft zwischen 1941 und 1991 überdauert hat.
 
Unter dem Eindruck von Nachkriegsdepressionen setzten sich »Ein-Mann-Herrschaften« im Sinne autoritärer Regime durch, für die es in Europa keine Parallele gab. Von faschistischen Diktaturen unterschieden sie sich durch Gewährung eines begrenzten Meinungspluralismus und eines Minderheitenschutzes. Die drei Re- publiken scheiterten nicht an ihren inneren Problemen, sondern ausschließlich an den Geheimverträgen zwischen Hitler und Stalin vom 23. August und 28. September 1939, als die beiden Diktatoren Ostmitteleuropa in Interessensphären aufteilten. Im Schatten der Eroberung von Paris (Juni 1940) durch deutsche Truppen verloren die Balten unter dem Diktat Moskaus ihre Freiheit und mussten im August 1940 um Aufnahme in die Sowjetunion nachsuchen. Erst im Herbst 1991 konnten sie nach der »singenden Revolution« im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetmacht wieder an die Unabhängigkeit von 1919 bis 1940 anknüpfen.
 
Dr. Gert von Pistohlkors, Göttingen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Estland und Lettland: Nationale Bewegungen im 19. Jahrhundert


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