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ATOMARES PATT: WECHSELSEITIGE ABSCHRECKUNG

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atomares Patt: Wechselseitige Abschreckung
 
Als 1947 die Hoffnungen auf eine bessere Welt zerrannen und der Kalte Krieg begann, waren die USA in einer einzigartigen Position: Sie besaßen die Atombombe. Von Stützpunkten rund um die Sowjetunion herum konnten amerikanische Flugzeuge fast jeden Ort dieses Landes mit der Nuklearwaffe bedrohen. Diese beneidenswerte Lage der USA dauerte aber nur zehn Jahre. 1949 verfügte die Sowjetunion über eine Atombombe, 1954 über die Wasserstoffbombe. War Moskau in der Mitte der Fünfzigerjahre mit den neu entwickelten Langstreckenbombern erstmals in der Lage, die Vereinigten Staaten zu erreichen, so war die Sowjetunion, nachdem sie 1957 mit der Weltraumsonde Sputnik das Wettrennen ins All gewonnen hatte, auch als Erste fähig, eine Interkontinentalrakete zu entwickeln. Dieser Sputnikschock änderte die militärstrategische Situation zwischen den beiden Rivalen grundlegend. Mit einer Reichweite von 16000 km konnten diese Raketen praktisch jede Stadt in Amerika nuklear bombardieren. Die USA waren keine Insel mehr. Sie waren einem sowjetischen Nuklearangriff genauso ausgesetzt wie die Sowjetunion einem amerikanischen.
 
Die USA mussten in dreifacher Hinsicht umdenken. Sie waren nicht mehr der militärisch unbestrittene Weltherrscher, sondern hatten einen Rivalen bekommen; darin steckte zunächst ein psychologischer Schock.Sie konnten, zweitens, ihre europäischen Verbündeten nicht mehr pauschal dadurch schützen, dass sie Moskau zur »nuklearen Geisel« nahmen; darin lag eine taktische Herausforderung. Dass die USA jetzt einen nuklearen Raketenangriff der Sowjetunion hilflos hinzunehmen gehabt hätten, war nicht nur ein in der amerikanischen Geschichte unbekanntes Novum, sondern enthielt auch eine einzigartige strategische Herausforderung: Was konnte man tun, wenn man eigentlich gar nichts tun konnte?
 
Die Vereinigten Staaten haben darauf zwei Antworten gegeben: Sie entwickelten 1961 zunächst die Strategie der wechselseitig gesicherten Zerstörung und dann die der Rüstungskontrolle mit der Sowjetunion. Den Schutz ihrer westeuropäischen Verbündeten gewährleisteten sie seit 1967 mithilfe der Strategie der flexiblen Antwort, die den abgestuften Einsatz von konventionellen und nuklearen Waffen vorsah.
 
Sicherheit durch wechselseitig gesicherte Zerstörung
 
Die Existenz land-, see- und luftgestützter nuklear-ballistischer Systeme auf beiden Seiten veränderte das strategische Denken grundsätzlich. Die Idee der Abschreckung war uralt, war schon von dem römischen Militärschriftsteller Vegetius um 400 n. Chr. auf die Formel gebracht worden, dass den Krieg vorbereiten müsse, wer den Frieden wolle. Diese eher dem Alltagsdenken als der Alltagserfahrung entsprechende Maxime hatte die europäische Realpolitik zuvor angeleitet und auch nach 1947 das strategische Denken im Ost-West-Konflikt geprägt. Es galt, einen potenziellen Angreifer durch das Vorzeigen militärischer Überlegenheit abzuschrecken. Im Zweifelsfall war Angriff die beste Verteidigung. In der Logik der wechselseitigen Abschreckung galt diese Rationalität jedoch nicht mehr. Es war ausgeschlossen, mit einem nuklearen Erstschlag die Zweitschlagskapazitäten der anderen Seite total ausschalten zu können: »Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.« Zwar hat die Sowjetunion diese Fähigkeit erst Ende der Sechzigerjahre erlangt, abzusehen war dies aber schon seit 1957.
 
Gab es gegen den nuklearen Erstschlag einer Seite keine Verteidigung, so konnte er abgeschreckt werden durch die Bereitstellung einer unzerstörbaren Zweitschlagskapazität. Sicherheit zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten konnte also dadurch erzeugt werden, dass beide jederzeit imstande waren, sich wechselseitig umzubringen. Mutual Assured Destruction las sich das auf Englisch — wechselseitig gesicherte Zerstörung. Das aus den Anfangsbuchstaben gebildete Kurzwort MAD ließ den Irrwitz dieser Strategie anklingen. Wäre es nicht viel vernünftiger gewesen, durch die Abschaffung der Nuklearwaffen und die drastische Abrüstung der konventionellen Waffen die gegenseitige Sicherheit zu garantieren? In der heißen Phase des Kalten Kriegs, in der beide Seiten auf Aufrüstung setzten, war dies offenbar nicht möglich.
 
Der schweigende Dialog
 
MAD enthielt aber auch eine dialogische Komponente: Beide Seiten verzichteten darauf, sich gegen strategische Nuklearangriffe zu verteidigen. Sie ließen ihre Städte, ihre Gesellschaften ungeschützt, verzichteten auf Bunker und auf Raketenabwehrsysteme. Das war kein Wahnsinn, das hatte Methode. Denn: Wer seine Verteidigung vorbereitete, signalisierte damit seine Aggressionsabsicht. Würde er sich sonst so konkret auf den Zweitschlag seines Gegners vorbereiten und versuchen, ihn aufzufangen? Umgekehrt informierte der sichtbare Verzicht auf jede Verteidigungsanstrengung den Gegner darüber, dass es keine Erstschlagsabsichten gab. Auf diese Weise schuf das System der wechselseitig gesicherten Zerstörung in der Gewissheit über die beiderseitig vorhandene Nichtangriffsbereitschaft die Grundlage der Koexistenz. Wer aus dem System ausbrach, riss beide Seiten in den Untergang.
 
Es war ein schweigender Dialog, der durch Taten, nicht durch Worte geführt wurde. Beide Seiten verständigten sich schnell darüber, die nuklearen Waffen zu monopolisieren, sie nicht in andere, unkontrollierbare Hände geraten zu lassen. 1963 schlossen die beiden Supermächte mit Großbritannien, das neben Frankreich (1960) und China (1964) bereits seit 1952 über Nuklearwaffen verfügte, ein begrenztes Teststoppabkommen, 1967 versprachen sie sich, den Weltraum — 1971 auch den Meeresboden — von Nuklearwaffen freizuhalten, und 1968 war der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen geschlossen worden. Zu einer Vereinbarung, die Strategie der wechselseitig gesicherten Zerstörung langsam mithilfe der Kooperation abzubauen, kam es erst 1972.
 
 Aufrüstung und erste Kontrollversuche
 
Abschreckungssysteme sind strukturell instabil, weil das Streben nach Gleichheit zu immer neuen Rüstungsanstrengungen zwingt. Diesem Dilemma unterlagen auch die beiden Supermächte. Um die Zweitschlagskapazität zu sichern, mussten Washington und Moskau zweierlei tun. Sie mussten ihre landgestützten Interkontinentalraketen vor einem Erstschlag schützen. Sie mussten, zweitens, die Treffgenauigkeit aller strategischen Systeme verbessern, um die Glaubwürdigkeit des vergeltenden Zweitschlags zu erhöhen. Die Sicherung der Raketenbasen war dabei weniger stabilitätsgefährdend als die Verbesserung der Zielgenauigkeit.
 
Beide arbeiteten daran. Ihre Nuklearwaffen konnten zwar Städte zerstören und Landstriche verwüsten; aber Punktziele treffen, etwa ein Raketensilo, konnten sie nur durch Zufall. Hier lag denn auch der größte Antrieb für die Rüstungsdynamik. Beide Seiten bemühten sich fieberhaft, die Treffgenauigkeit ihrer Raketen zu erhöhen und die radioaktive Strahlung ihrer Nuklearwaffen zu verkleinern.
 
Für die Sowjetunion kam hinzu, dass sie zwar 1957 die erste Interkontinentalrakete entwickelt hatte, ansonsten aber den Vereinigten Staaten militärisch hoffnungslos unterlegen war. Sie besaß nur wenige seegestützte Raketen und kaum Langstreckenbomber. Nicht zuletzt deswegen musste sie die Herausforderung der USA, die sie 1963 in der Kubakrise gewagt hatte, ergebnislos abbrechen.
 
Daraufhin begann sie ein riesiges Aufrüstungsprogramm. An seinem Ende, in der Mitte der Siebzigerjahre, hatte sich die Sowjetunion im Bereich der Interkontinentalraketen eine Parität mit den USA erarbeitet und dabei auch die amerikanische Erfindung, die Raketen mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten, erfolgreich übernommen. Weil die sowjetischen Raketen eine größere Nutzlast trugen, konnten sie sogar mehr Sprengköpfe transportieren als die amerikanischen.
 
Für die USA ergab sich daraus, dass sie mit der nuklearen Gleichgewichtspolitik, einer modernen Auflage der klassischen Strategie der balance of power, die Sowjetunion nicht an der Aufrüstung hindern konnten. Wenn es so weiterging, würde die Gleichgewichtspolitik dazu führen, dass immer höhere Rüstungsniveaus erreicht würden — ohne Ende und ohne einen höheren Stabilisierungsgrad. Die sowjetische Unterlegenheit in diesem Bereich bis Mitte der Sechzigerjahre war, so zeigte sich jetzt, nicht auf die amerikanische Vorrüstung, sondern auf die Entscheidung Moskaus zurückzuführen, sie hinzunehmen. Als dies sich änderte, mussten die USA erfahren, dass sie außerstande waren, der Sowjetunion einen Rüstungsverzicht aufzuzwingen.
 
Aus Moskauer Sicht nahm sich das Abschreckungssystem genauso aus, nur mit anderen Vorzeichen und anderen Rhythmen. Moskau konnte im strategischen Bereich nachrüsten und sich eine Marine zulegen; es konnte im eurostrategischen Bereich mit der Modernisierung der Raketen vom Typ SS-4 und SS-5 durch die SS-20 seiner konventionellen Überlegenheit noch die nukleare hinzufügen. Aber die Sowjets erreichten nur den denkwürdigen NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979, dem zufolge die NATO-Staaten ab Ende 1983 die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme — Pershing II und Cruisemissile — in Westeuropa planten, bei gleichzeitigem Angebot an die Sowjetunion, bis zum Stationierungstermin über den Abbau der SS-20 zu verhandeln. Es kam also zu einer Verschärfung der Lage, zu einer Verschlechterung der sowjetischen Position.
 
Anfänge der Kooperation
 
Zunächst waren es die Amerikaner, die die Problematik des Abschreckungssystems durchschauten, indem sie herausfanden, dass die Rüstungsdynamik die Koexistenz auszuhebeln drohte. Sie fügten dem System sozusagen ein kooperatives Element bei. Es nannte sich Rüstungskontrolle oder kooperative Rüstungssteuerung und beruhte auf der Devise des angelsächsischen Pragmatismus, dass man hervorlocken sollte, was man nicht erzwingen konnte. Welche bessere Methode gab es, die Sowjets an ihrer Vorrüstung zu hindern, als sie vertraglich auf ein niedrigeres Niveau zu verpflichten?
 
Vorbereitet durch Einsichten Präsident Kennedys und bestärkt durch das Versagen der Gewaltpolitik in Vietnam, leitete Präsident Nixon 1972 mit dem Besuch in Moskau seine »Ära des Friedens« ein. In Genf wurde der Vertrag über die Rüstungsbegrenzung bei strategischen Waffen, SALT I, geschlossen, ebenso der ABM-Vertrag, der die Stationierung von Raketenabwehrsystemen zu Wasser, zu Lande und im Weltraum auf je ein Abfangsystem mit 100 Raketenabschusseinrichtungen für jedes Land beschränkte.
 
Der SALT-I-Vertrag war eigentlich ein Zwischenabkommen, das die Anzahl der Startgeräte für Interkontinentalraketen festschrieb, ebenso die für seegestützte strategische Raketen, aber keine Abrüstung verlangte. Dafür waren die verabredeten Obergrenzen viel zu hoch. Der wechselseitigen Aufrüstung war eine Grenze gezogen worden. Sie betraf die Zahlen der Waffen, nicht notwendigerweise deren Qualität, stellte das Wettrüsten nicht ein, modifizierte es aber. Fundamental war dagegen der Wechsel der politischen Methode. Die USA und die Sowjetunion entschlossen sich zur partiellen Zusammenarbeit, weil sie damit viel erfolgreicher die Vorrüstung des jeweils anderen begrenzen konnten als durch den im Abschreckungssystem ausschließlich verwendeten Zwang.
 
Washington und Moskau verabschiedeten auf dem Gipfel von 1972 eine Grundsatzerklärung, die ihren Antagonismus in die »Entwicklung normaler Beziehungen« verwandelte. Sie sahen ein, »dass es im Nuklearzeitalter keine andere Alternative gibt, als die gegenseitigen Beziehungen auf der Grundlage einer friedlichen Koexistenz zu gestalten«.
 
Das war, nach 25 Jahren erbitterten Konflikts, eine erstaunliche Wende. Für die jeweiligen Alliierten war es sogar starker Tobak. Eine noch stärkere Prise wurde ihnen ein Jahr später verabreicht, als die USA und die Sowjetunion verabredeten, sich — falls die Gefahr eines Nuklearkriegs heraufziehen sollte — zunächst untereinander zu verständigen. Hier wurde bereits nicht mehr der Modus der Koexistenz beschworen, sondern der der Zusammenarbeit zwischen den beiden Supermächten.
 
 Das Ende der Hochrüstung unter Reagan und Gorbatschow
 
Dieser Wille zu Koexistenz und Kooperation löste den Ost-West-Konflikt keinesfalls auf, veränderte aber dessen Austragungsbedingungen. Beide Seiten hatten jetzt begriffen, dass sie aktiv zusammenarbeiten mussten, wenn sie verhindern wollten, dass die wechselseitige Abschreckung doch zum gemeinsamen Untergang führte. Die Koexistenz bedurfte des kooperativen Managements, wenn die gefährliche Rüstungsdynamik angehalten werden sollte. Sieben Jahre dauerten die Vorarbeiten zum SALT-II-Vertrag. Er hätte die Zahl der nuklearstrategischen Trägermittel auf 2250 — davon 1320 mit Mehrfachsprengköpfen, von diesen wiederum nur 1200 auf Raketen und 820 auf landgestützten Raketen — verringern und die Rüstung beider Seiten auch qualitativ einschränken sollen, nämlich auf die Hinzufügung höchstens einer neuen, zumal kleinen Interkontinentalrakete. Die Ratifizierungen scheiterten jedoch an der amerikanischen Aufregung über die von der Sowjetunion nach Kuba gesandte »Kubanische Brigade«, an der Demütigung der USA durch die Geiselnahme ihrer Diplomaten in Teheran im November 1979 und schließlich am Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Letzterer zeigte im Dezember 1979 erneut eine imperialistisch-aggressive Sowjetunion, die das Kooperationsangebot in der Nuklearrüstung durch gewalttätige Aktionen auf konventionellem Gebiet auszunutzen gedachte.
 
Das Abschreckungssystem strukturierte nicht nur die direkte Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die USA mussten auch an Westeuropa denken, das nicht, wie Osteuropa für die Sowjetunion, geopolitisch ihr direktes Vorfeld bildete. Die Verbündeten dort mussten aus der Ferne durch den amerikanischen »Nuklearschirm« geschützt werden.
 
Solange die Strategie der massiven Vergeltung (massive retaliation) anwendbar war, konnte sie sowjetisches Wohlverhalten in Europa erzwingen. Nachdem die Sowjetunion zur nuklearen Supermacht aufgestiegen war, konnte Washington nicht mehr darauf vertrauen, einen Krieg in Europa zu gewinnen; im Gegenteil, es musste verhindern, dass es überhaupt zu einem Krieg in Europa kam. Dieser hätte sehr schnell die Leiter der nuklearen Eskalation bis nach oben durchlaufen und damit auch den direkten amerikanisch-sowjetischen Nuklearkrieg auslösen können.
 
Washington erfand in dieser Lage in den Sechzigerjahren die Strategie der flexiblen Antwort (flexible response). Sie klappte den amerikanischen »Nuklearschirm« über Europa nicht zu, stellte ihn aber doch weit in die hintere Ecke. Jeder Konflikt sollte erst konventionell ausgetragen und aufgefangen werden. Das stieß den Alliierten, vor allem den Westdeutschen, lange und sauer auf; sie brauchten sieben Jahre, um sich mit dieser Aufweichung des amerikanischen Nuklearschutzes abzufinden. Dabei hatten sie lange Zeit noch den Trost, von der strategischen Gesamtrechnung im Ost-West-Konflikt zu profitieren, von der »Symmetrie der Asymmetrien«. Denn die Sowjetunion war zwar konventionell im Osten Europas überlegen, dafür hatten die USA strategisch wie eurostrategisch die nukleare Oberhand. Dieses Gleichgewicht zerrann, als die Sowjetunion an der Westgrenze des Warschauer Pakts ihre eurostrategischen Nuklearsysteme modernisierte. Die SS-4 und SS-5 waren veraltet und hatten nur einen Sprengkopf. Die Mitte der Siebzigerjahre stationierten SS-20 waren hingegen höchst modern und hatten drei Sprengköpfe; die noch moderneren SS-21 und SS-22 waren zudem schon in der Entwicklungsphase.
 
Das bedeutete, wie Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner berühmten Rede von 1977 den Amerikanern vorrechnete, die direkte nukleare Bedrohung Westeuropas, der die USA nichts entgegenzusetzen hatten. Wer in Moskau würde glauben, dass die USA weltweite nukleare Zerstörung auslösen würden, wenn Moskau in dem kleinen Raum Westeuropa eurostrategische Nuklearwaffen einsetzte?
 
Präsident Carter gab eine Doppelantwort: Er drängte die NATO zu größerer konventioneller Rüstung, erhöhte aber andererseits die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Nuklearschutzes durch die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme in Westeuropa. Dieser NATO-Doppelbeschluss von 1979 enthielt zwar auch ein Abrüstungsangebot, aber nicht im modernen Stil der Kooperation, sondern in dem alten Stil der Konfrontation.
 
Reagans Rückfall. ..
 
Den Westeuropäern war Nixons und Carters Kooperationspolitik in Sachen Rüstungskontrolle mit Moskau nie ganz geheuer gewesen. Sie waren gar nicht unglücklich darüber, dass mit Ronald Reagan 1981 in den USA ein Präsident die Regierung übernahm, dessen offensive Ostpolitik der europäischen Tradition sehr nahe zu stehen schien. Dass er die Erwartungen noch übertraf, indem er den Rüstungskontrollprozess kurzerhand unterbrach, das amerikanische Rüstungsbudget um 50 Prozent aufstockte und die Verlegung amerikanischer Mittelstreckenraketen nach Europa in einen konfrontativen Akt umfunktionierte, war ihnen freilich auch wieder nicht recht. Die »neue Eiszeit« im Ost-West-Konflikt, die mit Reagan anbrach und bis Ende 1983 andauerte, ging ihnen ebenso gegen den Strich wie zuvor die »Wärmeperioden« unter Nixon und Carter.
 
Die Sowjetunion unter der Führung der alten Garde rechtfertigte den amerikanischen Druck. Hatte Reagan die Verhandlungen um eine Erweiterung des nuklearen Teststoppabkommens kurzerhand von der Tagesordnung abgesetzt, so unterbrach Moskau die Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen (INF) im November 1983 ebenso abrupt.
 
Aber Reagan stach sie aus, als er im März 1983 das entscheidende Tabu im System der wechselseitigen Abschreckung brach. Er ordnete nicht nur die Errichtung von Schutzbauten in Amerika, sondern vor allem den Aufbau eines boden- und weltraumgestützten Raketenabwehrsystems, der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI), an. Das waren, nach der Logik des Nuklearzeitalters, zwei eindeutige Offensivsignale.
 
Was den Spitznamen »Krieg der Sterne« bekam, kündigte nicht nur die Kooperation in der Rüstungskontrolle, sondern die fundamentale Übereinstimmung im Aggressionsverzicht, die Grundlage des Abschreckungssystems, auf.
 
... und Reagans Fortschritt
 
Der amerikanische Kongress machte jedoch einen großen Strich durch die Rechnung der amerikanischen Aufrüster. Gestützt auf den Aufruhr der öffentlichen Meinung in den USA und in Europa, zwang der Kongress den Präsidenten auf den Weg der kooperativen Rüstungssteuerung zurück. Reagan war Politiker genug, um diese Zeichen der Zeit zu erkennen. In seiner Grundsatzrede vom 16. Januar 1984 leitete er — ebenso wie ab 1985 der neue sowjetische Machthaber Michail Sergejewitsch Gorbatschow — eine außenpolitische Wende ein, die zur Wiederaufnahme der Rüstungskontrollverhandlungen in Genf 1985 und schließlich zur amerikanisch-sowjetischen Verständigung von Reykjavík am 11. und 12. Oktober 1986 führte. Der INF-Vertrag vom 8. Dezember 1987 beseitigte alle nuklearen Mittelstreckenraketen größerer Reichweite (1000—5500 km) innerhalb von drei Jahren und innerhalb von eineinhalb Jahren auch die Raketen kürzerer Reichweite (500—1000 km) in Europa.
 
Den Abschluss der von ihm in START umbenannten Verhandlungen über eine nun tatsächliche Verminderung und nicht nur Begrenzung der Interkontinentalraketen, die seit 1982 parallel zu den INF-Gesprächen geführt worden waren, hat Reagan nicht mehr als Präsident erlebt. Der START-I-Vertrag, der beide Seiten verpflichtete, innerhalb von sieben Jahren die Zahl ihrer nuklearen Trägersysteme auf eine Obergrenze von jeweils 1600, die Zahl der Gefechtsköpfe auf jeweils 6000 zu reduzieren, wurde 1991 unterschrieben und 1994 in Kraft gesetzt. Der START II-Vertrag, der bis zum Jahr 2003 eine Halbierung der in START I erlaubten Potenziale an Gefechtsköpfen brachte und alle landgestützten Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen verbot, wurde 1993 abgeschlossen und 1997 zwar von den USA, aber bisher nicht vom russischen Parlament ratifiziert.
 
Immerhin: Reagan hat auch diesen Fortgang der Kooperationspolitik, den Schritt von der Rüstungskontrolle zur Abrüstung eingeleitet und vorangetrieben. Ab 1985 wurde er dabei tatkräftig von dem neuen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow unterstützt. Dieser war nicht nur maßgeblich am langfristigen Erfolg von Reykjavík beteiligt, sondern führte auch die Auflösung des Ost-West-Konflikts herbei, in deren Folge aus der Sowjetunion Russland als Partner des Westens hervorging.
 
Logik der Kernwaffen
 
Im Rückblick auf die Rüstungsprozesse des Kalten Kriegs zeigt sich, dass die Kernwaffen nicht nur die vertraute Logik der Machtgleichgewichte auf den Kopf gestellt, sondern die Gewaltanwendung als Möglichkeit der Konfliktbearbeitung eigentlich beseitigt haben. Der (Nuklear-)Krieg kann nicht mehr, wie zu Zeiten des Herrn von Clausewitz, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln eingesetzt werden, weil er die Welt und damit die Politik selbst zerstört. In den Kernwaffen entfaltet die Gewalt ein solches Zerstörungspotenzial, dass ihr Einsatz sinnlos wird.
 
Dieser Einsicht verdankt sich der Beginn der Rüstungskontrolle und ihr Übergang zur Abrüstung, deren Anfang — wenn auch sehr behutsam — auf 1986, das Treffen von Reykjavík, zu datieren ist. Die Existenz der Kernwaffen erzwingt nicht nur die Koexistenz, weil sie jede Weigerung mit dem gegenseitigen Untergang bestraft. Sie verlangt darüber hinaus die Kooperation, weil anders die Kernwaffen nicht unter Kontrolle gehalten werden können. Die Weiterverbreitung der Nuklearwaffen — wie die der chemischen und biologischen Waffen — kann nur kooperativ kontrolliert werden.
 
Der Kalte Krieg ging 1990 zu Ende. Aber die Lehren, die er bereithält, gelten für die Zukunft und weltweit.
 
Prof. Dr. Ernst-Otto Czempiel
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
ABC-Waffen: Massenvernichtungsmittel
 
Literatur:
 
Czempiel, Ernst-Otto: Machtprobe. Die USA und die Sowjetunion in den achtziger Jahren. München 1989.
 
Fischer-Weltgeschichte. Band 35: Das zwanzigste Jahrhundert, Teil 2: Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. 1945-1982, herausgegeben von Wolfgang Benz und Hermann Graml. Frankfurt am Main 40.-41. Tausend 1994.
 Gaddis, John L.: We now know. Rethinking Cold War history. Oxford u. a. 1997.
 Gorbatschow, Michail: Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt. Aus dem Englischen. Neudruck München 1988.
 Hacker, Jens: Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980. Baden-Baden 1983.
 
In letzter Stunde. Aufruf zum Frieden, herausgegeben von Walter Jens. Beiträge von Heinrich Albertz u. a. München 1982.
 Kahl, Martin: Abschreckung und Kriegführung. Amerikanische Nuklearstrategie, Waffenentwicklung und nukleare Rüstungskontrolle von Kennedy bis Bush. Bochum 1994.
 Kissinger, Henry A.: Memoiren, Band 1: 1968-1973. Aus dem Amerikanischen. München 1979.
 Link, Werner: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21988.
 Loth, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975 - Entspannung und Abrüstung. München 1998.
 Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957. Göttingen 31996.
 Schelling, Thomas C.: The strategy of conflict. Neudruck Cambridge, Mass., u. a. 1995.
 Schöllgen, Gregor: Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow. 1941-1991. München 1996.
 Schubert, Klaus von: Von der Abschreckung zur gemeinsamen Sicherheit. Ausgewählte Aufsätze, herausgegeben von Friedhelm Solms. Baden-Baden 1992.
 Subok, Wladislaw und Pleschakow, Konstantin: Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise. Aus dem Amerikanischen. Hildesheim 1997.


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