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BÖLL: DER UMSTRITTENE KLASSIKER

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Böll: Der umstrittene Klassiker
 
Unter den Schriftstellern, die nach 1945 daran mitgewirkt haben, der deutschen Literatur ein neues Gesicht — und damit wieder Ansehen zu Hause und in der Welt zu geben, war Heinrich Böll, geboren 1917, zweifellos der bedeutendste und der bekannteste. Mit Recht hat man ihn nach seinem Tode im Jahr 1985 den »einzigen Volksschriftsteller« genannt, den die Bundesrepublik hervorgebracht habe. Viele seiner Kurzgeschichten und Erzählungen fanden schnell den Weg in die Schullesebücher, machten Böll zum »Klassiker«. In ihnen, aber auch in seinen Romanen konnten mehrere Generationen von Lesern und Leserinnen ihre jeweils eigenen Lebenserfahrungen und Konflikte wieder erkennen — von den Kriegsheimkehrern und Trümmerfrauen der späten 40er- bis zu den Friedensdemonstranten der frühen 80er-Jahre. So ist das Gesamtwerk dieses Autors fast wie von selbst eine Chronik oder besser noch ein »fortlaufender Kommentar« (Wolfram Schütte) zur Geschichte der Bundesrepublik geworden. Tatsächlich ist Heinrich Böll mehr als ein »Chronist« dieses Zeitabschnitts: Er hat die historischen Geschehnisse und ihre Auswirkungen auf das alltägliche Leben ganz »gewöhnlicher« Menschen nicht nur registriert; er hat vielmehr immer wieder Partei ergriffen, sich eingemischt in drängende kulturelle und politische Fragen. Das verschaffte ihm verständlicherweise nicht nur Zustimmung, aber fast immer Respekt.Die politische Kultur unseres Landes, auch das wurde nach seinem Tode vermerkt, habe »zu einem großen Teil aus Böll-Debatten« bestanden. Dass er 1971 als erster Deutscher zum Präsidenten der Internationalen Schriftstellervereinigung PEN gewählt wurde und im Jahr darauf — als erster deutscher Nachkriegsautor — den Nobelpreis für Literatur erhielt, zeigt, dass diese Bedeutung auch im Ausland wahrgenommen und anerkannt wurde. Dass Böll repräsentativer Autor und zugleich Kritiker der Gesellschaft — oder in seinen eigenen Worten — ein »permanent umstrittener Klassiker« werden konnte, hat seinen Grund in der außergewöhnlichen Überzeugungskraft seiner Äußerungen und seines persönlichen Engagements. Böll musste man ernst nehmen, auch wenn man seine Meinung nicht teilen konnte. Das lag daran, dass sein Auftreten nie auf Effekte zielte — und sein Eintreten weniger einer »Sache« oder Partei galt, als vielmehr — ganz unideologisch — dieser oder jener Person, dem einzelnen Fall, besonders auch der Lage und den Interessen von Verfolgten in Ost und West.
 
Woher Heinrich Böll diese Überzeugungskraft nahm, ist nicht ganz einfach zu sagen. Er selbst hat stets betont, von der Bedeutung seiner eigenen Person ablenkend, dass er »stellvertretend« für andere spreche und handle, die Vergleichbares erfahren und erlitten hatten und ähnliche Wünsche und Sehnsüchte hegten. So sagte er 1964 in den »Frankfurter Vorlesungen«: »Obwohl als Einzelner schreibend, habe ich mich nie als Einzelnen empfunden, sondern als Gebundenen, gebunden an Zeit und Zeitgenossenschaft, an das von einer Generation Erlebte, Erfahrene, Gesehene und Gehörte.« Mit diesem Begriff der »Gebundenheit«, den Böll immer wieder verwendet, ist hingewiesen auf die grundlegende Bedeutung von Herkunft und Heimat, von Familie und Religion für den Menschen und Schriftsteller Heinrich Böll. Denn diese »Gebundenheit« war nicht nur Grundlage persönlicher Identität, sondern zugleich ein wichtiger Fundus für die Kontinuität und die Weiterentwicklung seines späteren Werkes, für den Prozess, den Böll seine literarische »Fortschreibung« nannte.
 
 Frühe Jahre
 
»Geboren bin ich in Köln«, schreibt Heinrich Böll in der kleinen Skizze Über mich selbst (1959), »wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird. .., am 21. Dezember 1917, während mein Vater als Landsturmmann Brückenwache schob; im schlimmsten Hungerjahr des Weltkriegs wurde ihm das achte Kind geboren. ..«. Viktor Böll war Kunsthandwerker, ein bei seinen Kunden beliebter Tischler und Holzbildhauer, der ein eigenes »Atelier für kirchliche Kunst« führte. Die Mutter Maria, geborene Hermanns, stammte aus einer Bauern- und Bierbrauerfamilie und war in Düren aufgewachsen.
 
So verlebte Heinrich Kindheit und Jugend in einem bodenständigen, kleinbürgerlich und katholisch geprägten Milieu. Dass die Familie von den wirtschaftlichen Krisen und Nöten der Zeit zwischen den Kriegen, von Hunger, Inflation und sozialem Abstieg direkt betroffen war, konnte nicht verhindern, dass Böll seine Kinder- und Jugendjahre auch später stets als glückliche Zeit beschrieb. Gewiss, der Vater geriet in arge ökonomische Schwierigkeiten, die Familie musste das eigene Haus verkaufen und mehrmals in Köln die Wohnung wechseln. Aber das wird den Jungen nicht allzu sehr bedrückt haben — »nie wohnten wir weit vom Rhein, spielten auf Flößen, in alten Festungsgräben, in Parks, deren Gärtner streikten. ..«. Wichtiger als äußere Unsicherheiten und Nöte, ja von lebensbestimmender Kraft war wohl die Geborgenheit, der emotionale Rückhalt, den Elternhaus und Freundeskreis boten — alles in allem ein weltoffener, diskussionsfreudiger und notfalls auch kirchenkritischer Katholizismus. Er bestimmte die geistige Atmosphäre und die Gesprächsthemen, die Lektüre und die politische Ausrichtung. So blieb der junge Heinrich Böll, anders als viele Generationsgenossen, ganz unempfindlich für die Lockrufe der Nazis; für eine gewisse Zeit konnte er sich sogar an Hitler-Jugend und Arbeitsdienst vorbeimogeln. Das ist in der autobiografischen Skizze Was soll aus dem Jungen bloß werden (1981) sehr anschaulich festgehalten.
 
Auf Dauer jedoch konnte der junge Mann dem totalitären Staat nicht durch die Maschen schlüpfen. 1937 machte er das Abitur, begann eine Buchhandelslehre in Bonn, die er bald abbrach — musste nun doch zum Reichsarbeitsdienst und nahm ohne rechte Begeisterung ein Germanistikstudium auf. Dass er damals, an die zwanzig Jahre alt, zu schreiben anfing, wissen wir von ihm selbst — erhalten ist wenig und veröffentlicht bisher nichts davon.
 
 Krieg, Gefangenschaft und literarischer Beginn am Nullpunkt
 
1939, gleich mit Kriegsbeginn, wurde Böll zur Reichswehr eingezogen, bald danach als Infanterist in Frankreich eingesetzt, später an der Ostfront in Russland, Rumänien, Ungarn — alles Schauplätze, die dann in seinen frühen Kurzgeschichten und ersten Romanen wieder auftauchen werden. Während eines Heimaturlaubs hatte Heinrich Böll im März 1942 seine Jugendfreundin Annemarie Çech geheiratet, die Lehrerin war. In der späten Erinnerung Brief an meine Söhne (1985) berichtet er von mehrfacher Verwundung, von Lazarettaufenthalten und auch davon, wie er sich mit eigenhändig »bearbeiteten« Urlaubsscheinen und Marschbefehlen immer wieder von der Truppe zu entfernen verstand. Das Kriegsende erlebte er dann »sicherheitshalber« wieder in einer regulären Einheit, die geschlossen in amerikanische Gefangenschaft geriet. Doch schon im Dezember 1945 konnte er zu Frau und Eltern zurückkehren — in ein völlig zerstörtes Köln. Es begann der alltägliche Kampf um Wohnung, Kleidung und Nahrung, der zunächst alle literarischen Pläne überlagerte — und doch schon Stoffe, Figuren und Themen für künftige Geschichten bereitstellte.
 
Gewiss, der junge Familienvater (1947, 1948, 1950 wurden die Söhne Raimund, ✝ 1982, René und Vincent geboren) hatte sich in erster Linie ums tägliche Auskommen zu mühen. Er nahm Gelegenheitsarbeiten, etwa beim Statistischen Amt der Stadt Köln an, während Frau Annemarie wieder unterrichtete. Und dennoch betrieb er bald schon — und mit einer durchaus typischen Hartnäckigkeit — seine literarischen Projekte. »Schreiben wollte ich immer, versuchte es schon früh, fand aber die Worte erst später«, heißt es in Über mich selbst. Das darf man, wie wir heute wissen, auch als Hinweis darauf verstehen, dass manche der um 1949 entstandenen Werke damals ungedruckt blieben. Zugleich lassen sich in ihnen, etwa in dem erst 1992 publizierten Roman Der Engel schwieg, bereits thematische und stilistische Grundlinien des Gesamtwerks erkennen. Wie im Wahnsinn des Krieges oder in der Trümmerlandschaft von 1945 eine menschenwürdige Existenz bewahrt oder neu begründet werden kann — im materiellen, vor allem aber im moralischen Sinn —, diese Frage bestimmt zumindest das Frühwerk Bölls bis weit in die 50er-Jahre hinein. Zunächst begann die Karriere mühsam genug: Erste Kurzgeschichten oder umgearbeitete Romankapitel wurden 1946/47 in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt; der Rheinische Merkur zahlte stolze 80 Mark für die Geschichte Aus der Vorzeit. Rundfunklesungen kamen hinzu; im Jahr 1951 wurde Böll von Hans Werner Richter zur Tagung der »Gruppe 47« eingeladen; er las mit Erfolg und erhielt den begehrten Preis der Gruppe für seine Groteske Die schwarzen Schafe. Das mag ihm den Schritt in die »freie« Schriftstellerexistenz mehr erleichtert haben als seine beiden ersten Bücher, die sich nicht besonders gut verkauften. Ein Notizzettel Bölls führt für dieses Jahr 1951 Honorareinnahmen von insgesamt 1 800 DM auf.
 
Seine ersten und bis heute viel gelesenen Kurzgeschichten und Romane Der Zug war pünktlich (1949), Wanderer, kommst du nach Spa... (1950), Wo warst du, Adam? (1951) beschreiben in immer neuen Anläufen die typische Erfahrung von Krieg und Nachkriegszeit, wobei die inneren Verwüstungen — der Verlust traditioneller Ordnungen, Lebenspläne und Gewissheiten — nicht geringer sind als die Merkmale äußerer Zerstörung: Gewalt, Tod und Trümmer. Bölls sympathische, aber sehr unheroische Figuren versuchen mit unspektakulären Formen der Verweigerung — und mit mehr oder weniger Erfolg — einen minimalen Spielraum von Individualität und Würde zu verteidigen — gegen den brutalen Militarismus der Nazizeit wie gegen die schleichenden Zwänge der »verwalteten« Nachkriegswelt. Neue Hoffnung, Momente von Glück erfahren sie nur in flüchtigen Augenblicken der Begegnung und des gemeinsamen Genusses. Die geteilte Zigarette wird in diesen Geschichten zum Leitmotiv — ein zeitgebunden-realistisches Requisit, das in seinem Symbolwert dennoch ans Sakrament des Abendmahls erinnert.
 
Damit ist auch schon Bölls »Schreibweise« charakterisiert, die grundsätzlich realistisch ausgerichtet ist, mit Blick und Vorliebe fürs konkrete und bezeichnende Detail, auch für Skurriles und Abseitiges, und die das Bild der Realität immer wieder durch markante Symbolik, oft mit religiösem Hintergrund, überhöht. Böll bezeichnete seine Schreibarbeit, besonders in jenen frühen Jahren, gern als »Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land«. Das drückt zum einen seine Auffassung aus, dass Literatur und Kunst mehr seien als bloße Artistik, dass sie den Lebensraum des Einzelnen verteidigen und einen Beitrag zur politischen Kultur leisten sollen; oder auch: dass die Kunst nicht ablösbar sei von der Dimension der (privaten wie politischen) Moral. Zum anderen verweist diese Formel auf die historische Situation und das Selbstverständnis von Bölls Autorengeneration, die sich 1945 an einem tiefen Einschnitt, einem »Nullpunkt« der kulturellen und literarischen Entwicklung sah und ganz aus eigenen Kräften zu einer neuen Sprache vorzudringen suchte. Vorbilder und Anregungen fand Böll am ehesten bei ausländischen Autoren: bei Klassikern wie Fjodor M. Dostojewski, den er schon als Jugendlicher kennen lernte; bei den französischen Links-katholiken (Léon Bloy und Georges Bernanos) oder Existenzialisten (Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir); schließlich bei den amerikanischen Meistern der Short Story (William Faulkner und Ernest Hemingway), deren lakonischer Erzählsprache er nacheiferte.
 
 Das literarische Gewissen der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft
 
Die Form des Romans, die er nicht ohne Mühe technisch perfektionierte, trat in den 50er-Jahren in den Vordergrund seines Schaffens — und mit ihr ein Themenkomplex, dem Böll seine ersten Verkaufserfolge und sein wachsendes Renommee als »der« literarische Kritiker der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft verdankt. Verschiedentlich hat man ihn — in übertragenem Sinne — als geistigen Gegenspieler seines kölnischen Landsmanns Konrad Adenauer bezeichnet. Und tatsächlich rieb sich Böll an eben den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die der erste Bundeskanzler nach Kräften beförderte: Wiederaufbau, Wiederbewaffnung und Wirtschaftswunder. Dabei geht er stets von konkret-alltäglichen Erfahrungen und Problemfeldern aus: Und sagte kein einziges Wort (1953) ist der Roman einer katholischen Ehe, die durch materielle Not und Glaubensverlust an den Rand des Scheiterns gerät und nur durch individuell erkämpfte Glaubensgewissheit gerettet wird. So gewiss dies ein religiöser Roman ist, so gewiss ist er auch ein Dokument der Kirchenkritik. Die katholische Amtskirche wird in beispielhaften Figuren angeklagt und schuldig gesprochen. Sie hat ihre seelsorgerische Aufgabe zugunsten der Teilhabe an gesellschaftlicher Macht verraten. Insofern wird sie auch stellvertretend für die Gesellschaft insgesamt kritisiert: als eine Säule im Bau der deutschen Restauration, die Böll wie manche seiner Kollegen als »Aufbau nach den alten Plänen« begriff und angriff.
 
In Haus ohne Hüter (1954) und Billard um halb zehn (1959), beide als Familienromane angelegt, die immer breitere Weltausschnitte und größere historische Zusammenhänge erfassen, wendet sich die Kritik über die jeweils betroffenen Instanzen hinaus vor allem auf die Mentalität, die Böll für die gesellschaftliche Fehlentwicklung verantwortlich macht. Die resolute Hinwendung zu den Aufgaben der Gegenwart, den handfesten »Realismus« oder Materialismus der Wirtschaftswunderzeit sieht er notwendig verbunden mit der Abwehr aller Erinnerung an Nationalsozialismus und Krieg, an Schuld und Leid. Das aber begünstigt eine schlimme Kontinuität, in der die Mitschuldigen von einst in allzu vielen Führungspositionen von Politik und Wirtschaft, Kultur und Kirche wieder Einfluss und Macht gewinnen.
 
In den genannten Werken und einigen mehr stellt Böll regelmäßig zwei Personentypen oder -gruppen gegeneinander, die dieses Problem verkörpern: einerseits die sympathisch-passiven Figuren, die an die Vergangenheit gebunden sind und nur mit Mühe und vielen Skrupeln weiterleben; andererseits diejenigen, die »ihre Erinnerung geschlachtet« haben und nun scheinbar unbelastet die neuen Machtzentralen der Gesellschaft besetzen. Diese Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß, »Tätern« und »Opfern« ist verschiedentlich wegen ihres Schematismus kritisiert worden. An wichtigen Punkten trifft sie sich aber durchaus mit Analysen der Sozialpsychologie, die unter Schlagworten wie »unbewältigte Vergangenheit« oder »Unfähigkeit zu trauern« wenig später die öffentliche Diskussion bestimmen.
 
Gebündelt und zugespitzt wurden die kritischen Einwände 1963 in dem Roman Ansichten eines Clowns, den ein Kritiker scharf aber treffend Bölls »Generalabrechnung« mit dem »CDU-Staat« des Kanzlers Konrad Adenauer genannt hat, der eben damals, mehr oder weniger unfreiwillig, von der politischen Bühne abtrat. Auch diese Gleichzeitigkeit trug dazu bei, dem Roman breiteste kritische Aufmerksamkeit zu sichern: Monatelang wurde er von der gesamten Kritikergarde in den führenden Blättern diskutiert. Aber der bisherige Höhepunkt seines Schaffens bedeutete auch einen Wendepunkt für Böll. In der Figur des Clowns und abtrünnigen Fabrikantensohns Hans Schnier, der seinen Eltern ihren erinnerungslosen Opportunismus, der katholischen Kirche ihre machtgeile Heuchelei und seiner Freundin Marie den Verrat ihrer Liebesgemeinschaft vorwirft, zeichnet Böll den Außenseiter schlechthin, das schlechte Gewissen der guten Gesellschaft. Starrsinnig beharrt der Clown auf Erinnerung und Trauer einerseits, auf dem sakramentalen Rang seiner »wilden« Ehe anderer-seits und manövriert sich damit, wie der resignative Romanschluss zeigt, endgültig ins Abseits.
 
Auch für seinen Autor endet der bisherige Weg in einer Sackgasse. Die Zeit der moralisch begründeten Auseinandersetzung mit der Restauration war vorüber, die Kirchenkritik hatte sich erschöpft. Die Spiegel-Krise und die Ablösung Adenauers, der »Auschwitz«-Prozess und erste Studentenproteste signalisierten um 1963 eine gewisse Öffnung der gesellschaftlichen Diskussion, ein Stück Veränderung und innere Demokratisierung der Bundesrepublik, die auch von den kritischen Intellektuellen neue Argumente und neue Tonlagen verlangte. Böll hat dies zumindest gespürt und mit einer längeren Schaffenspause sowie dem zeitweiligen Rückzug nach Irland reagiert, wo die Familie ein kleines Ferienhaus besaß. Das Irische Tagebuch, das schon 1957 erschienen war, ist eine Liebeserklärung an das Gastland, das in naiver Gläubigkeit und mit traditionell intakten zwischenmenschlichen Beziehungen gezeichnet und verklärt wird. Es dient insofern als ein idyllisch-kritisches Gegenbild zur Bundesrepublik. Als einer der meistgelesenen Böll-Texte überhaupt hat es wohl ebenso viel zur Breitenwirksamkeit des Autors beigetragen wie die Satiren und grotesken Kurzgeschichten, die er kontinuierlich schrieb. So ist Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1958), eine treffsichere Satire auf den Medienbetrieb der frühen Jahre, ein bis heute kaum übertroffenes Kabinettstückchen.
 
 Kultureller Repräsentant und Kritiker
 
Insgesamt wuchs der Autor Heinrich Böll seit den frühen 50er-Jahren kontinuierlich in die Rolle des anerkannten und gesuchten Autors, in den 60er-Jahren auch in die eines kulturellen Repräsentanten hinein. Schon Mitte der 50er-Jahre hatte die Familie ein eigenes Haus im einstmals ländlichen Vorort Müngersdorf bezogen, man machte mehrfach Ferien an der irischen Westküste, 1958 auch am Lago Maggiore (Adenauer reiste stets an den Gardasee). 1959 wurde Heinrich Böll mit dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet, 1961 mit dem Literaturpreis der Stadt Köln, 1967 schließlich mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis überhaupt, der nach Georg Büchner benannt ist. Auch die Rede, die er zu diesem Anlass hielt, ist ein Dokument verstärkten gesellschaftspolitischen Engagements; und wie viele seiner Kollegen protestierte auch Böll 1968 gegen die geplanten Notstandsgesetze. Den politischen und kulturrevolutionären Protest der Studentenbewegung sah er mit distanzierter Sympathie, beharrte jedoch gegen sie hartnäckig auf dem Eigenwert der Kunst, gerade angesichts der »Deformation des Staates«: »Die Kunst, dies große, recht hohl klingende Wort, sie bringt nicht nur, sie ist die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde.«
 
Innenpolitisch trat er besonders für die berufsständischen Interessen der Autoren ein, wurde Vorsitzender des neu gegründeten Verbandes deutscher Schriftsteller (1969). Im Wahlkampf von 1972 engagierte er sich für die SPD und Willy Brandt, dem er sich persönlich wie politisch — vor allem in Hinblick auf eine neue, um Versöhnung bemühte Ostpolitik — verbunden fühlte. Die Niederwerfung des sozialistischen Reformmodells durch russische (und ostdeutsche) Panzer, die er 1968 in Prag miterlebt hatte, kritisierte er mit äußerster Schärfe. Später hat er gerade in den Staaten des Ostblocks, neben einer gewissen offiziellen Wertschätzung, das Vertrauen vieler Verfolgter und Dissidenten gewonnen und in zahlreichen Einzelfällen wirksame persönliche Hilfe geleistet. So war er erster Ansprechpartner im Westen, als prominente russische Systemkritiker wie Aleksandr Solschenizyn (1974) und Lew Kopelew (1981) die Sowjetunion verlassen mussten. Bölls Wahl zum Präsidenten des Internationalen PEN (1971) und der Nobelpreis von 1972 gaben solchen Aktionen zusätzlichen institutionellen Rückhalt.
 
 Gegen Bürokratie, Konsumdruck und Medienmacht
 
Für den Erzähler Böll bedeutete die Mitte der 60er-Jahre Zäsur, Selbstbesinnung und Neubeginn. In den »Frankfurter Vorlesungen« hatte er 1964 Bilanz gezogen und die deutsche Nachkriegsliteratur als Stimme definiert, die aussprach, was ansonsten allzu gern verschwiegen wurde; die vor allem im Blick auf die Nazivergangenheit »Schuld, Reue, Buße, Einsicht« anmahnte. Zugleich sah er die Literatur als Verteidigung des Alltäglichen, des individuellen Lebensraums, der persönlichen Würde gegen die sich verschärfenden Zwänge von Bürokratie, Konsumdruck und Medienmacht. »Es ist unsere Aufgabe«, hatte er schon 1952 geschrieben, »daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden — und dass die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind.« Diesem Programm blieb Böll treu, aber er fand eine neue, überraschend heitere, wenn auch nicht unernste Tonart dafür. Nach der humoristisch-provokativen Novelle Ende einer Dienstfahrt (1966) gilt dies besonders für den großen Geschichtsroman Gruppenbild mit Dame (1971), den man mit gutem Recht Bölls »bedeutendstes Buch« (Karl Korn) genannt hat. Auch hier geht es, an einem exemplarisch-märchenhaften Fall, um die Rettung der privaten Lebenssphäre und zugleich um die utopische, versöhnende Kraft der Liebe. In der Vergangenheitshandlung der Kriegsjahre mahnt die gefahrvoll-verbotene Liebesbeziehung zwischen der Hauptfigur Leni Pfeiffer und dem russischen Zwangsarbeiter Boris an die sakramentale Würde der Liebe und zugleich an die historisch notwendige Versöhnung. In der Gegenwartshandlung geht es darum, Lenis Wohn- und Lebensraum gegen menschenverachtende Spekulation zu verteidigen, wozu sich eine bunt gemischte Gemeinschaft solidarisch zusammenfindet. Beide Ebenen verbindet der Erzähler zum Lebensbild dieser »Frau von Ende vierzig«, die »die ganze Last deutscher Geschichte zwischen 1922 und 1970 mit und auf sich genommen hat«. Mit dieser bewusst lockeren Verknüpfung, die Stoff und Handlung gewissermaßen »öffnet«, durchlässig macht für die eigenen Geschichtserfahrungen vieler Leser und Leserinnen, und mit einem unaggressiv ironischen Erzählton erreicht Heinrich Böll hier den Gipfel seiner erzählerischen Meisterschaft.
 
Weniger souverän, weil enger der unmittelbaren Aktualität und ihren Konflikten verbunden, war 1974 die Novelle Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann. Sie wurde nicht nur schnell zum »Schulklassiker«, sondern über die Jahre hinweg — verstärkt vom Erfolg der Verfilmung durch Volker Schlöndorff (1975) — zu Bölls verbreitetstem Text überhaupt. Die Hauptfigur Katharina Blum sieht sich zu einer individuellen (aber nicht: terroristischen!) Gewalttat gezwungen, um ihre von der Sensationsgier der Massenpresse in den Schmutz getretene »Ehre« zu verteidigen. Damit waren Reizthemen der 70er-Jahre berührt und Böll erntete neben einem großen Publikumserfolg auch politische Angriffe und persönliche Diffamierungen, besonders von staatstragender Seite, ganz als habe er sich zum Fürsprecher terroristischer Gewalt gemacht. In Wahrheit hatte er schon 1972, als die Terroraktionen der Baader-Meinhof-Gruppe eine Welle von staatlicher Gegengewalt provozierten, in einem Spiegel-Artikel zur Besinnung und Deeskalation aufgerufen (Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?). Der Appell wurde nicht gehört, vielfach wohl auch bewusst missverstanden und lenkte nun, wie noch einmal 1977, Verdächtigungen und Bedrohungen auf den Autor selbst.
 
Der führende kulturelle Repräsentant der Bundesrepublik wurde nun von manchen, vorweg der mächtigen Springer-Presse, in die Rolle des Staatsfeindes gedrängt. Er sah sich und seine Familie polizeilicher Überwachung und mehrfacher (bis heute nicht hinreichend erklärter) Hausdurchsuchung ausgesetzt und verstrickte sich in der Folge in langwierige, seine Kräfte aufzehrende juristische Auseinandersetzungen. Sie haben zweifellos zu jener deutlichen Verdüsterung seines Gesellschaftsbildes beigetragen, die dann auch seine letzten Romane, Fürsorgliche Belagerung (1977) und Frauen vor Flusslandschaft (1985), einfärbt. Beide Romane sind auch von wohlwollenden Kritikern skeptisch bis negativ beurteilt worden, es scheint, als hätten sich Bölls »fortgeschriebene« Themen und Erzählweisen erschöpft oder zumindest doch die konkrete Bindung an die Alltagswirklichkeit verloren, die so lange typisch für den Autor und seine Texte war.
 
Auf der anderen Seite belebte sich die publizistische Aktivität, die Böll seit den 50er-Jahren in stets zunehmendem Umfang gepflegt hatte, in seinen letzten Lebensjahren noch einmal. Zunächst als (über-)lebenswichtige Pflichtaufgaben, besonders für den zahlungskräftigen Rundfunk begonnen, wurden diese Arbeiten bald schon zu einer eigenständigen Ausdrucksform des Autors, Lesers und Zeitgenossen Böll. Nicht nur quantitativ sind die Bände mit Interviews und offenen Briefen, mit Reden, Essays und Kritiken dem erzählerischen Werk gleichrangig; erst sie machen das intellektuelle Profil Heinrich Bölls als Schriftsteller, als öffentliche Person und zuletzt auch als Privatperson unverwechselbar. Arbeiten aus dem letzten Lebensjahrzehnt wurden nun unter Titeln gesammelt, die noch einmal die grundsätzliche Orientierung seiner schriftstellerischen Arbeit ansprechen: Einmischung erwünscht (1977), Vermintes Gelände (1979) oder Die Fähigkeit zu trauern (1988). Sie reagieren einerseits auf aktuelle Konflikte und Gefahren, etwa die nukleare Aufrüstung, gegen die Böll sich im Rahmen der Friedensbewegung engagierte; andererseits wenden sie sich erinnernd zurück auf die erlebte Vergangenheit, die — ganz ähnlich wie in manchen Romanen — als privater Lebenslauf und als kollektiv erfahrene Zeitgeschichte zugleich deutlich wird.
 
Heinrich Böll verblieb bis zuletzt in der spannungsreichen Doppelrolle als Repräsentant und Kritiker. Er sprach 1981 im Bonner Hofgarten auf der größten Demonstration gegen die atomare Nachrüstung, er beteiligt sich zwei Jahre später an der Sitzblockade des Atomwaffendepots in Mutlangen. Von der SPD hatte er sich in der Zeit nach Brandts Kanzlerschaft zunehmend entfernt, näherte sich nun den Positionen der »Grünen« an, die später eine ihrer Parteistiftungen nach Heinrich Böll benannten. 1983, im Jahr des Mutlangener Protests, wurde er — nach einer kommunalpolitischen Kontroverse, die man gut und gern als Lokalposse bezeichnen darf — Ehrenbürger seiner Heimatstadt Köln, zu deren literarischer Unsterblichkeit er so manches beigetragen hatte, auch wenn er inzwischen, nicht weit entfernt, im ländlichen Bornheim-Merten lebte.
 
Gesundheitlich war Böll seit längerem angegriffen, sein Tod infolge einer Kreislauferkrankung am 16. Juli 1985 kam insofern nicht ganz überraschend. Das Gefühl des Verlustes und der Trauer, das damals breit und vielfältig Ausdruck fand, galt einerseits gewiss seiner Person und der unverwechselbar »böllschen« Authentizität. Es drückte sich darin aber auch die Ahnung aus, dass mit seinem Tode ein Zeitabschnitt, eine Epoche zumindest der deutschen Literatur und des geistigen Lebens zu Ende gegangen war. Heinrich Böll war, wie wir heute sehen können, nicht nur der realistische Schilderer von Lebenswirklichkeiten, die die ersten Jahrzehnte dieser Republik ausmachten. Er hat auch, vielleicht als Letzter, die Rolle des Schriftstellers ausgefüllt, der sich über sein eigenes Metier hinaus dem Gemeinwohl verpflichtet, des Intellektuellen, der sich für die unerledigten Fragen der Gesellschaft zuständig erklärt, auch auf Kosten seiner literarischen Arbeit, seiner persönlichen Geltung, seiner Gesundheit. Er war in gewissem Sinne eine »Vorzeigefigur« geworden, wie sein Kollege Hans Magnus Enzensberger ihm nachrief, stand stellvertretend für den »ganz anderen Deutschen, der dafür zuständig war, die Schweinereien einer ganzen Nation wettzumachen. .. In einem Lande, das keine Märchen mehr erträgt, war der arme Heinrich der Letzte seinesgleichen. Niemand wird seinen Platz einnehmen.«
 
Jochen Vogt
 
Literatur:
 
Dorothee Römhild: Die Ehre der Frau ist unantastbar. Das Bild der Frau im Werk Heinrich Bölls. Pfaffenweiler 1991.
 Henning Falkenstein: Heinrich Böll. Neuausgabe Berlin 1996.
 Bernd Balzer: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und Kommentare. München 1997.
 Viktor Böll und Markus Schäfer: Fortschreibung. Bibliographie zum Werk Heinrich Bölls. Köln 1997.
 Klaus Schröter: Heinrich Böll. Reinbek 58.-60. Tsd. 1997.


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