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ANTISEMITISMUS: EIN DEUTUNGSVERSUCH

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Antisemitismus: Ein Deutungsversuch
 
Das Wort »Antisemitismus« dient einerseits als Oberbegriff für jede Art von Judenfeindschaft, andererseits charakterisiert dieses im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene Wort im engeren Sinne eine neue, nicht christlich, sondern pseudowissenschaftlich mit Rasseneigenschaften und Rassemerkmalen argumentierende Form des antijüdischen Vorbehalts. Von diesem modernen Antisemitismus ist der religiös motivierte, ältere Antijudaismus zu unterscheiden, der freilich den Nährboden für die im 19. Jahrhundert sich ausbreitende neue Judenfeindschaft bildete.
 
 Der Antijudaismus im Mittelalter
 
Die Vorbehalte gegen Juden waren, nachdem sich das Christentum im 3./4. Jahrhundert als Staatsreligion im Römischen Reich durchgesetzt hatte, zunächst auch im Mittelalter ausschließlich religiöser Natur. Allerdings bestimmte der Glaube in existenziellem Umfang den Alltag, und religiöse Differenzen hatten entsprechend einschneidende Bedeutung. Die Verweigerung der Taufe, das Festhalten am eigenen Ritus, das Unverständnis der Juden für die Erlösungsidee durch Christus machte die Juden in christlichen Augen zu »Verstockten«. Aus dem religiösen Unverständnis zwischen Minderheit und Mehrheit folgte die sowohl von Kirchenlehrern als auch von Rabbinern erhobene Forderung nach äußerer Trennung zwischen den Anhängern des Alten Testaments, die sich als erwähltes Volk verstanden, und denen, die, erlöst durch Jesus Christus, an die Überwindung des Alten Testaments glaubten und als christliche Gemeinschaft die Mehrheit bildeten.Nach christlicher Lehrmeinung galten die Juden als »Gottesmörder«, so Abt Hieronymus von Bethlehem. Bischof Johannes I. Chrysostomos von Antiochia schrieb, die Synagoge sei eine »Sammelstätte der Christusmörder«.
 
Die religiösen Vorschriften, vor allem die strenge Sabbatruhe und die rituellen Speisegesetze, zwangen die Juden auch in gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht in die Rolle von Außenseitern in der Gesellschaft. Vom Warenaustausch — mit Ausnahme ländlichen Kleinhandels — und der Produktion aufgrund christlich definierter ständischer und zünftiger Ordnung des Wirtschaftslebens ausgeschlossen, waren Juden auf den Geldhandel beschränkt, da Zinsnehmen als Wucher Christen verboten war. Die Pfandleihe wurde jüdisches Monopol, geschützt von Königen und Fürsten, erkauft durch hohe Abgaben der Juden. Trotz ihrer eigenen Ausbeutung waren nur die jüdischen Geldverleiher dem Hass ihrer Schuldner ausgesetzt und nicht diejenigen, die dieses Finanzsystem für sich benutzten.
 
Am Ende des 11. Jahrhunderts entluden sich religiöse Gegensätze und gesellschaftliche Ressentiments in Gewaltakten gegen die jüdische Minderheit in Europa. Der erste Kreuzzug 1096 — der Intention nach ein Krieg gegen »Ungläubige« zur Befreiung des Heiligen Landes — wurde von fanatisierten Christen, die als Angehörige der Unterschichten, als verarmte Bauern, Abenteurer und Mittellose aus Sozialneid handelten, zunächst gegen Juden in ganz Mitteleuropa geführt, etwa in den Städten des Rheinlandes. Von den Kreuzfahrern bedrängt, standen die Juden vor der Wahl, getötet zu werden oder den christlichen Glauben durch den Empfang der Taufe als richtiges Bekenntnis anzuerkennen. Nach »geglückter Mission« endete die Verfolgung, da sie ausschließlich durch religiöse Ressentiments motiviert war. Die meisten Juden wählten jedoch den Tod.
 
Die Gewaltaktionen hatten, wie auch diejenigen späterer Kreuzzüge, die alle judenfeindlich waren, den Charakter von Pogromen, das heißt die Gewalt richtete sich nicht gegen einzelne, sondern gegen alle Angehörige der Minderheit; die religiös-christliche Motivation sprengend, gehörten Plünderungen, Diebstahl und Raub untrennbar zum gewalttätigen Geschehen.
 
Zur Begründung der aggressiven Judenfeindschaft wurden seit dem 13. Jahrhundert Legenden und Erzählungen verbreitet, die Ritualmorde und Hostienfrevel zum Gegenstand hatten. 1144 tauchte erstmals in der Gestalt des William von Norwich das Opfer eines angeblich von Juden begangenen Ritualmordes auf. Der Legende nach begehen Juden alljährlich aus Hass auf Christus und die Christen unter Anleitung ihrer Rabbiner in der — von christlicher Seite religiös-emotional besonders sensiblen Passionswoche — einen Mord in ritueller Form an einem unschuldigen christlichen Knaben, um das Leiden Christi zu verhöhnen. Nach dem Laterankonzil von 1215, das die Transsubstantiationslehre zum Dogma erhob, kam als zweites Motiv die Blutlegende hinzu, nach der die Juden ihren Opfern zur Bereitung von Matzen oder zu medizinischen Zwecken Blut entziehen. Die Unhaltbarkeit solcher Anschuldigungen ergibt sich schon aus den rituellen Geboten der jüdischen Lehre, nach der der Verzehr von Blut den Juden streng verboten ist. Kirchenlehrer und Päpste haben dies auch immer wieder konstatiert, Kaiser und Könige haben die Juden gegen die Blutbeschuldigungen verteidigt, jedoch ohne Erfolg. Die Blutlegenden waren, von Interessenten wie Predigern oder fanatisierten Bettelmönchen im Missionseifer verbreitet, bis ins 20. Jahrhundert wirksam als Anlass zur Verfolgung der Juden.
 
Die Ritualmordbeschuldigung verbreitete sich von England aus nach Frankreich und Spanien, an den Rhein und an den Bodensee, in den Alpenraum und nach Franken und schließlich im 16. Jahrhundert auch nach Polen. Die Opfer wurden mit kirchlicher Duldung oder Anerkennung Gegenstand der Verehrung als Märtyrer wie Little Hugh of Lincoln (1255), Werner von Bacharach (1287) oder Simon von Trient (1475).
 
Die judenfeindlichen Anschuldigungen wurden in zahllosen Chroniken, Geschichten, Liedern und Predigtsammlungen überliefert. Wie das Beispiel des Anderl von Rinn in Tirol zeigt, war der Kult bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts amtskirchlich geduldet. Wie gefährlich die Ritualmord- und Blutlegenden für die Juden waren und wie lange damit zu Ausschreitungen angestachelt werden konnte, zeigt der Pogrom von Kielce in Polen, bei dem noch 1946 die Vermutung, ein verschwundenes Kind sei von Juden getötet worden, Anlass zum Mord an mindestens 42 Juden, die den Holocaust überlebt hatten, bot.
 
Des Weiteren beschuldigte man die Juden seit dem 12. Jahrhundert, sie begingen Hostienfrevel. Diese Unterstellung gründete in der Wahnvorstellung, das Volk der »Gottesmörder« ritualisiere den antichristlichen Affekt durch die Wiederholung der Leiden, die einst Jesus zugefügt wurden, am Leib Christi in Gestalt der geweihten Hostie. Im reziproken Verhältnis zu den Hostienwundern, die sich nach vielfältiger Überlieferung ereigneten — die von Juden mit Messern, Dornen und Nägeln gemarterten Hostien sollen zu bluten begonnen haben —, wurden die Juden dämonisiert als Anhänger des Satans, als Verkörperungen des Antichrist. Die Hostienfrevellegenden zeitigten einerseits Wallfahrten wie die »Deggendorfer Gnad«, die bis 1992 begangen wurde, und eine reiche Erbauungsliteratur, die das religiös motivierte feindselige Judenbild tradierte, andererseits waren sie oft Anlass zu Pogromen gegen Juden, am weitreichendsten im »Rintfleischaufruhr« von 1298, bei dem in Franken 5000 Juden getötet wurden und in der »Armleder-Verfolgung« 1336—1338, bei der in ganz Süddeutschland, im Elsass, in Böhmen, Mähren und Kärnten 6000 Menchen ermordet wurden. Bei der bis in die Neuzeit wirkenden negativen Stereotypisierung waren die Juden »Ketzern«, »Hexen«, später Freimaurern und Jakobinern als Feinde des Christentums gleichgestellt.
 
 Judenfeindlichkeit in der frühen Neuzeit
 
Den klerikalen Judenbildern folgten, nicht weniger gefährlich, säkularisierte Zuschreibungen, die die Juden als Verursacher von Übeln stigmatisierten. Die Pestepidemie in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts bot Anlass zur Spekulation, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Auch ökonomische Motive bedingten, dass die Pest zum Vorwand für Verfolgung wurde. Erstmals auf einen weltlichen Vorwurf hin kam es 1348—1350 zu mehreren Pogromwellen, in denen die meisten jüdischen Gemeinden zerstört wurden.
 
Bei der nun folgenden Marginalisierung der Juden durch weltliche Obrigkeiten, durch Städte und Fürsten, hatte die Kirche Schrittmacherdienste geleistet: Das Laterankonzil 1215 hatte beschlossen, dass die »Ungläubigen« durch eine eigene Tracht erkennbar sein sollten — gelber Fleck und Judenhut — und von den Christen abgesondert werden müssten. Das war der Beginn der Gettoisierung der Juden in den Städten und der Regelung ihrer beschränkten Teilnahme am öffentlichen Leben durch eine Unzahl von diskriminierenden Vorschriften. Lion Feuchtwanger hat in seinem Roman »Jud Süß« die Situation der Juden im späten Mittelalter eindringlich beschrieben: »Im 14. Jahrhundert waren sie hier in mehr als 350 Gemeinden erschlagen, ertränkt, verbrannt, gerädert, erdrosselt, lebendig begraben worden. Die Überlebenden waren zumeist nach Polen ausgewandert. Seitdem saßen sie spärlich im Römischen Reich. Auf 600 Deutsche kam ein Jude. Unter raffinierten Plackereien des Volkes und der Behörden lebten sie eng, kümmerlich, dunkel, hingegeben jeder Willkür. Untersagt war ihnen Handwerk und freier Beruf, die Vorschriften der Ämter drängten sie in verwickelten und verwinkelten Schacher und Wucher. Beschränkten sie im Einkauf der Lebensmittel, ließen sie den Bart nicht scheren, steckten sie in eine lächerliche, erniedrigende Tracht. Pferchten sie in engen Raum, verrammelten die Tore ihres Ghettos, sperrten sie zu Abend um Abend, bewachten Ein- und Ausgang.«
 
Im 13. Jahrhundert wandelte sich das Kreditsystem. Die christlichen Zinsrestriktionen wurden gelockert, wodurch Juden und Christen im Geldgeschäft zu Konkurrenten wurden. Nur noch diejenigen borgten gegen hohen Zins bei Juden, die sonst nirgendwo mehr Kredit bekamen. Als antijüdische Stereotype verfestigte sich nun das Bild des jüdischen Wucherers; die jüdischen Minderheiten in den Städten waren insgesamt, ihrer bisherigen ökonomischen Funktion weithin ledig, dämonisiert und standen, wie andere Randgruppen der Gesellschaft, unter ständigem Verfolgungsdruck. Dem Beispiel der Territorialherren (England 1290, Frankreich 1306, Spanien 1492) folgend, wurden Juden seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aus religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Gründen aus den Städten vertrieben, und zwar meist auf Betreiben der Bürger: Am Ende des Mittelalters waren sie in Mitteleuropa — mit Ausnahme von Prag und Frankfurt am Main — aus den Städten verschwunden. Sie lebten, soweit sie nicht nach Osten abgewandert waren, als Dorfjuden kümmerlich von Kleinhandel, vor allem vom Hausier- und Altwarenhandel. Aufgrund der aus christlicher Wurzel stammenden, tradierten Feindbildstereotypen (Wucherer, Christenfeinde, Brunnenvergifter, Ritualmörder) und aufgrund der in Christenaugen rätselhaften religiösen Bräuche sowie der sich daraus vermeintlich ergebenden Eigenschaften (Geiz, Rachedurst, Raffgier, Hochmut, Feigheit, Arglist, Lügenhaftigkeit) waren die Juden als Angehörige einer randständigen Minderheit ohne eigene Schuld stigmatisiert. Sie erschienen als Gegenstand des Abscheus, aber schließlich auch als Objekte missionarischen Strebens. Wenn sie — wie es die Regel war — den Lockungen der christlichen Taufe widerstanden, zogen sie umso mehr den christlichen Zorn auf sich, wie das Beispiel Martin Luthers zeigt, dessen wütende antijüdischen Predigten wie seine Schrift von 1543 »Von den Juden und ihren Lügen« enttäuschten Bekehrungseifer spiegeln. An die Stelle von Zwangstaufen, die nach kanonischem Recht unzulässig waren, trat in der frühen Neuzeit die Judenmission mit verheerenden Folgen beim Misslingen dieser Absicht.
 
Im Mittelalter war die Rechtsstellung der Juden als servi camerae regis, als königliche Kammerknechte, definiert, das heißt, die Juden waren abgabenpflichtig und genossen dafür ein Minimum an Schutz vor Verfolgungen. Mit der Ausbildung der Landesherrschaft ging das Judenregal auf die Territorialfürsten über. In der Neuzeit waren dann diejenigen Juden, die für den Landesherren von Interesse waren, als »Schutzjuden« privilegiert. Gegen beträchtliche Zahlungen bekamen Kapitalkräftige die Erlaubnis, sich anzusiedeln, vielfach traten jüdische »Entrepreneure« (Unternehmer) in der Zeit des Absolutismus in fürstliche Dienste, um als Hoffaktoren kostspielige Unternehmungen des Fürsten zu finanzieren wie der Berliner Münzmeister Lippolt, der vom Brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. Hektor 1540 eingestellt worden war. Insgesamt hatte Joachim 42000 Taler von Juden als Ansiedlungsgebühren kassiert, die Jahressteuern noch nicht gerechnet. Nach Joachims Tod 1571 wurde der Hoffaktor Lippolt der Veruntreuung von Geldern bezichtigt; des Weiteren hieß es, er habe auch den Kurfürsten vergiftet und dessen Geliebte verführt — allesamt stereotype und unhaltbare Vorwürfe. Ein Gerichtsverfahren endete jedoch mit der Hinrichtung Lippolts 1573. Die Berliner Juden hatten unter Ausschreitungen und Plünderungen zu leiden, danach wurden sie wieder des Landes verwiesen, wofür sie noch Abzugsgelder als Kontribution bezahlen mussten. Der literarisch berühmteste Fall eines Hoffaktors, der zugleich die Willkür illustriert, der die Juden unterworfen waren, ist die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer, der als »Jud Süß« in Diensten des württembergischen Herzogs Karl Alexander stand, die Finanzen des Landes verwaltete und nach dem Tod seines Auftraggebers 1738 öffentlich hingerichtet wurde; er war zum Sündenbock erklärt worden für die Zerrüttung der Staatsfinanzen und den Verfall landständischer Rechte unter Herzog Karl Alexander.
 
 Von der religiös-gesellschaftlichen zur rassistischen Ausgrenzung im 19. Jahrhundert
 
In der Zeit der Aufklärung wurde mit der zum Beispiel von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn propagierten Idee der Toleranz gegenüber Juden der Weg zur Emanzipation bereitet, die als »bürgerliche Verbesserung der Juden« gedacht war. Der Schriftsteller und Beamte in preußischen Diensten Christian Wilhelm Dohm fasste 1781 das Programm der aufklärerischen Judenemanzipation in die Worte: »Die der Menschlichkeit und der Politik gleich widersprechenden Grundsätze der Ausschließung, welche das Gepräge der finsteren Jahrhunderte tragen, sind der Aufklärung unserer Zeit unwürdig und verdienen schon längst nicht mehr, befolgt zu werden.«
 
Die Emanzipation der Juden, also ihre Befreiung aus den sozialen und rechtlichen Schranken, war in Deutschland und Österreich kein revolutionärer Akt wie 1791 in Frankreich, sondern Ergebnis einer langwierigen Debatte, die sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1860er-Jahre hinzog. Als Bewegung gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden und gefördert von gesellschaftlichen Krisen, kam es 1819 zu pogromartigen Ausschreitungen. Die »Hep-Hep-Verfolgungen« begannen in Würzburg und strahlten über ganz Deutschland bis nach Dänemark aus. Sie zeigten zugleich, dass Judenfeindschaft eine Form von sozialem Protest war, bei dem Aggressionen verschoben und gegen Juden gerichtet wurden.
 
Judenfeindschaft erhielt im 19. Jahrhundert eine neue Dimension in Gestalt des rassistisch und sozialdarwinistisch argumentierenden modernen Antisemitismus, der sich als Resultat wissenschaftlicher Erkenntnis ausgab. Zu dessen Vätern gehörte Arthur de Gobineau mit seinem voluminösen Essay »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen« (erschienen 1853 bis 1855 in vier Bänden), der zwar nicht gegen die Juden gerichtet war, aber instrumentalisiert wurde als Eckpfeiler einer Rassentheorie, die den modernen Antisemitis- mus scheinbar wissenschaftlich unterfütterte. Die Übereinstimmung der antisemitischen Theoretiker bestand darin, dass jede »Rasseneigenschaft« der Juden negativ war. Der Unterschied zur älteren Judenfeindschaft war die Überzeugung, dass Rasseneigenschaften anders als religiöse Bekenntnisse unveränderbar seien. Die Taufe konnte nach Überzeugung der Antisemiten den Makel des Judeseins nicht mehr aufheben. In der Diskussion über die »Judenfrage« spielten die Schmarotzermetaphorik und die Parasitenmetaphorik zunehmend eine Rolle, ungeachtet der Tatsache, dass die antiemanzipatorische Judenfeindschaft vor allem eine Bewegung gegen die Modernisierung der Gesellschaft und gegen den politischen Liberalismus war. Der Übergang vom religiösen Hass zur rassistischen Ablehnung war nicht abrupt, die Traditionen des religiösen Antijudaismus blieben wirkungsmächtig und verstärkten die neuen pseudorationalen Argumente des Rassenantisemitismus. Schließlich wurde Judenfeindschaft zum »kulturellen Code« (Shulamit Volkov), mit dessen Hilfe sich die Rechte im Wilhelminischen Kaiserreich verständigte.
 
Intellektueller Höhepunkt der Auseinandersetzung war der Berliner Antisemitismusstreit, ausgelöst durch einen Artikel Heinrich von Treitschkes in den »Preußischen Jahrbüchern« im November 1879. Der angesehene Historiker hatte sich gegen die von ihm befürchtete Masseneinwanderung osteuropäischer Juden ausgesprochen und den deutschen Juden mangelnden Assimilationswillen vorgeworfen. Obwohl er nicht für die Rücknahme der Emanzipation plädierte, war Treitschke in der Argumentation und durch die Verwendung ausgrenzender judenfeindlicher Stereotypen — er verwendete einmal den Ausdruck »Deutsch redende Orientalen« — ins Lager der Antisemiten geraten. Auch angesichts der Wirkung, die Treitschkes kulturpessimistische Ausführungen hatten, ist die Diskussion, ob er selbst ein Antisemit war, ziemlich müßig, denn er machte zumindest die grassierende antisemitische Agitation, wie sie von drittrangigen Publizisten und eifernden Kleingeistern entfacht worden war, gesellschafts- und diskussionsfähig.
 
Kurz zuvor, im Februar 1879, war Wilhelm Marrs politisches Pamphlet »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum« erschienen, das im Herbst 1879 schon in der 12. Auflage verkauft wurde. Marr verwandte erstmals den Begriff »Antisemitismus«. Den Weg dahin hatten schon Autoren wie Otto Glagau bereitet, der im weit verbreiteten Wochenblatt »Die Gartenlaube« die Juden mit Verunglimpfungen wie »90 Prozent der Gründer und Makler sind Juden« als Verursacher der lang anhaltenden Wirtschaftskrise, die auf den »Gründerkrach« von 1873 folgte, denunzierte und in polemischen Artikeln die Juden zu Sündenböcken für aktuelles Ungemach stempelte. Die Pressekampagnen in der konserativen protestantischen Kreuzzeitung, aber auch in katholischen Blättern, deren gemeinsamer Feind der politische Liberalismus war, vertieften seit 1874/75 die judenfeindlichen Ressentiments.
 
Treitschke entfachte mit seiner Parteinahme in der »Judenfrage« im November 1879 eine Diskussion, die großes öffentliches Interesse fand. In Berliner Tageszeitungen erschien im November 1880 eine von 75 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens — unter ihnen der Althistoriker Theodor Mommsen — unterzeichnete »Erklärung«, die antisemitische Bestrebungen verurteilte und sich besonders gegen die »Antisemitenpetition« richtete, die ein Leipziger Professor zusammen mit Friedrich Nietzsches Schwager Bernhard Förster initiiert hatte. 250000 Unterschriften sollten den Reichskanzler dazu bewegen, die Einwanderung von Juden zu verbieten und Juden von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Zwei Tage lang war diese Petition im Preußischen Parlament Gegenstand des Streits zwischen der Fortschrittspartei einerseits sowie Konservativen und dem Zentrum andererseits. In der »Erklärung« hieß es »in unerwarteter und tief beschämender Weise wird jetzt an verschiedenen Orten, zumal den größten Städten des Reichs, der Racenhass und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen und gegen unsere jüdischen Mitbürger gerichtet«.
 
Mit dem Vorstoß Treitschkes drohte der Antisemitismus die Berliner Universität zu erobern. Dieser Gefahr stellten sich im Sinne der Erklärung Juden und Nichtjuden entgegen, unter ihnen bekannte Rabbiner, die nationalliberalen Politiker Ludwig Bamberger und Heinrich Bernhard Oppenheim, vor allem aber die Historiker Harry Bresslau aus Berlin und Heinrich Graetz aus Breslau. Der Höhepunkt des Antisemitismusstreits war erreicht, als Theodor Mommsen in den Streit eingriff und Ende 1880 seine Schrift »Auch ein Wort über unser Judenthum« veröffentlichte, in der er scharf gegen Treitschke Stellung bezog und sich dagegen verwahrte, dass Juden als »Mitbürger zweiter Klasse betrachtet, gleichsam als besserungsfähige Strafcompagnie« rechtlich gestellt sein dürften. Treitschke, der sich unschuldig verfolgt glaubte, war an der Berliner Universität bald isoliert.
 
Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, der sich seit 1878 als Gründer einer »Christlich-Sozialen Arbeiterpartei« um die Heranführung von Arbeitern und Handwerkern an die bestehende Staatsordnung bemühte und hoffte, sie der Sozialdemokratie zu entfremden, instrumentalisierte »die Judenfrage« und hielt unter dem Druck seiner mittelständischen Anhänger am 19. September 1879 die erste von mehreren judenfeindlichen Reden, in denen er die antisemitischen Erwartungen seiner Zuhörer bediente, die ökonomischen und sozialen Wünsche und Ängste der von existenziellen Sorgen geplagten Kleinbürger aufgriff und mit Schuldzuweisungen an »die Juden« Erklärungen und Lösungen für aktuelle Probleme anbot. Die Partei Stoeckers hatte, trotz des volkstribunenhaften Prestiges des Hofpredigers, wenig Erfolg und wurde schließlich Bestandteil der Konservativen Partei. Das Konzept, die Arbeitermassen mit Thron und Altar durch klerikal-judenfeindliche Agitation zu versöhnen, erwies sich als wenig tragfähig, wohl aber hinterließ Stoeckers Politisierung des Christentums mit antisemitischen Parolen deutliche Spuren in der evangelischen Kirche bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.
 
Im Gefolge des Antisemitismusstreits erschienen Schriften wie zum Beispiel 1881 »Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage« aus der Feder des Privatgelehrten Karl Eugen Dühring. Dieser war, wie andere führende Antisemiten, ein paranoider Einzelgänger, dessen Abneigungen gegen Sozialdemokratie, Juden und Liberale zu Wahnideen gesteigert waren. Als Theoretiker des modernen Antisemitismus erlangte er überragende Bedeutung, er propagierte die Vorstellung einer jüdischen Weltmacht und empfahl wortradikal sogar die Tötung und Ausrottung der Juden.
 
Theodor Fritsch, Ingenieur und Verleger, war ein anderer Vorkämpfer des modernen rassistisch und pseudowissenschaftlich argumentierenden Antisemitismus. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Thomas Frey einen »Catechismus für Antisemiten«, der später unter seinem richtigen Namen mit dem Titel »Handbuch der Judenfrage« erschien und 1944 die 49. Auflage erreichte. In seinem Verlag erschienen neben Fachzeitschriften antisemitische Pamphlete und Flugblätter. Ab 1902 publizierte Fritsch die »Hammer-Blätter für deutschen Sinn« als Organ des »wissenschaftlichen« Antisemitismus und als Zentrum der judenfeindlichen rechtsradikalen Sekte »Deutscher Hammerbund«, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Deutschvölkische Freiheitspartei mündete.
 
Houston Stewart Chamberlain, auch er ein schriftstellernder Privatgelehrter mit umfassenden naturwissenschaftlichen Interessen, gebürtiger Brite und naturalisierter Deutscher, durch psychosoziale Auffälligkeiten an einer akademischen oder militärischen Karriere gehindert, wurde durch seine 1899 veröffentlichte kulturhistorische Schrift »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts« berühmt, ein umfangreiches Konvolut rassistischer germanozentrischer Ideen, das von der Wissenschaft abgelehnt wurde, das gebildete Bürgertum jedoch faszinierte und auf Kaiser Wilhelm II., später dann auf Adolf Hitler, großen Eindruck machte.
 
Neurotisch auf den Gegensatz zwischen der »jüdischen« und »arischen« Rasse fixiert, arbeitete Chamberlain mit griffigen und gern aufgenommenen Stereotypen, wenn er zum Beispiel den Juden verinnerlichte Religiosität absprach und einen übermäßigen Einfluss der Juden in der modernen Welt fantasierte. Nicht weniger verhängnisvoll war der Einfluss seines von ihm verehrten und bewun- derten Schwiegervaters Richard Wagner, dessen Renommee als Komponist, Musikdramatiker und Schriftsteller seine antisemitischen Überzeugungen transportierte, wie sie in Wagners ebenso wirkungsvollem wie irrationalem Aufsatz »Das Judentum in der Musik« (1850) zum Ausdruck gekommen waren. Nicht nur die Gebildeten um die Jahrhundertwende waren vom Antisemiten Wagner und seinem Bayreuther Kreis fasziniert. Wagners Einfluss reichte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, wie das Beispiel Hitlers zeigt, der dessen Musik im Dritten Reich kultische Ehren zukommen ließ.
 
 Der politisch organisierte Antisemitismus
 
Die Geschichte des politisch organisierten Antisemitismus, die 1879 mit Wilhelm Marrs Antisemiten-Liga, die 6000 Mitglieder gehabt haben soll, und Stoeckers Christlich-Sozialer Partei beginnt, ist die Geschichte von Sekten und Spaltungen, ein programmatischer Charivari konservativer, antikapitalistischer, sozialdemagogischer Ideologiefragmente, propagiert von antiliberalen und antidemokratischen untereinander konkurrierenden Demagogen. Im September 1882 waren bei einem »Ersten Internationalen Antijüdischen Kongress« in Dresden 300—400 Antisemiten versammelt, die sich auf kein gemeinsames Programm verständigen konnten. In Konkurrenz standen die 1880 gegründete »Soziale Reichspartei« von Ernst Henrici und der auf Max Liebermann von Sonnenberg und Bernhard Förster zurückgehende extrem konservative »Deutsche Volksverein«. In Kassel wurde 1886 die »Deutsche Antisemitische Vereinigung«, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel war, ins Leben gerufen. Auf dem Antisemitentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 verschiedene judenfeindliche Strömungen auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen, aber schon wegen der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sie sich wieder. Es gab nun eine »Antisemitische Deutschsoziale Partei« und eine »Deutschsoziale Partei« und ab Juli 1890 die von Böckel gegründete »Antisemitische Volkspartei«, die ab 1893 »Deutsche Reformpartei« hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemitischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 16 Mandate.
 
Am meisten Aufsehen erregte der Demagoge Herrmann Ahlwardt, der als Parteiloser im Reichstag saß und als Radau-Antisemit besonders hervortrat. In Pommern agitierte er mit der Losung »Gegen Junker und Juden!«. Durch hemmungslosen Populismus war Ahlwardt, den Helmut von Gerlach »den stärksten Demagogen vor Hitler in Deutschland« genannt hatte, vorübergehend erfolgreich. Im Kaiserreich hatte der organisierte Antisemitismus keinen politischen Einfluss erringen können; zum kulturellen Klima der Zeit aber hatte er einen schwer zu unterschätzenden Beitrag geleistet; seine Agitation und Publizistik, die in die öffentliche Diskussion eingeführten Schlagworte und Postulate bildeten Keime, die schlummernd in der Erde lagen und nur auf günstige Bedingungen zu ihrer Entfaltung warteten.
 
Der Antisemitismus im Wilhelminischen Kaiserreich war freilich keine singuläre Erscheinung und kein deutsches Charakteristikum. In Österreich entwickelte sich der Antisemitismus als politische Bewegung in den 1880er-Jahren vor allem im Kleinbürgertum. Die erste organisatorische Basis fanden die Antisemiten in Handwerksgenossenschaften und Innungen. Im Reichsrat agierte zur gleichen Zeit der deutschnationale Abgeordnete Georg Ritter von Schönerer als Protagonist der Judenfeindschaft. Nachdem er 1888 infolge eines radau-antisemitischen Überfalls auf eine Zeitungsredaktion für lange Zeit ins Abseits geriet, verlor der extreme Antisemitismus an Boden. Dafür wurde der Abgeordnete Karl Lueger zur charismatischen Integrationsfigur der Christlichsozialen Partei, die, ähnlich wie Stoecker in Berlin, Judenfeindschaft für ihre antiliberale und antisozialistische Sammlungspolitik instrumentalisierte. Anders als im Deutschen Reich war die Demagogie der österreichischen antisemitischen Christlichsozialen erfolgreich. Lueger wurde, nachdem seine Anhänger 1895 die Mehrheit im Wiener Gemeinderat errungen hatten, 1897 Bürgermeister. Bei der späteren Bewertung seiner kommunalpolitischen Verdienste blieb weitgehend unberücksicht, dass sie ohne den Antisemitismus, der an Emotionen appellierte und als Bindeglied zwischen den christlichsozialen Anhängern fungierte, nicht zu erreichen gewesen wären.
 
In Frankreich, das seiner kleinen jüdischen Minderheit — 80000 Personen, mithin 0,02 Prozent der Bevölkerung — 1791 im Zuge der Französischen Revolution die vollen Bürgerrechte gewährt hatte, waren die antisemitischen Strömungen unterschiedlich motiviert. Während die sephardischen Juden in Südfrankreich kaum auf Integrationsprobleme stießen, waren die aschkenasischen Juden im Nordosten verschiedenen Anfeindungen ausgesetzt, die teils christlich-katholische Wurzeln hatten, teils auf den Rassismus zurückgingen wie ihn Gobineau verfocht und Édouard Adolphe Drumont in seiner 1886 erschienenen Schrift »La France Juive« (in deutscher Übersetzung: »Das verjudete Frankreich«) propagierte und teils — dies war ein Spezifikum Frankreichs — von den Sozialisten ausgingen.
 
Der französische Antisemitismus kulminierte in der Dreyfusaffäre, die ab 1894 jahrelang die französische Öffentlichkeit in Atem hielt. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus war aufgrund gefälschten Beweismaterials 1894 in einem dubiosen Prozess wegen Landesverrats zur Deportation verurteilt worden. Das Verfahren führte nach Interventionen Intellektueller — berühmt geworden ist Émile Zolas offener Brief »J'accuse« (»Ich klage an«) von 1898 — zur Staatskrise, die mit einem Sieg der Republikaner über Klerikale, Nationalisten und Antisemiten endete. Dreyfus wurde 1899 in einem neuen Prozess zu einer geringeren Strafe verurteilt, dann begnadigt und 1906 vollständig rehabilitiert. Der Antisemitismus als antimoderne politische Bewegung erlitt in Frankreich eine bedeutende Niederlage, ohne indes vollständig zu verschwinden.
 
Am Ende des 19. Jahrhunderts galt Russland als Synonym für virulenten und gewaltsamen Antisemitismus. Juden, die im Ansiedlungsrayon im Westen des Landes in Armut und rechtlicher Unsicherheit lebten, wurden regelmäßig von Pogromen heimgesucht. Nach der Ermordung Kaiser Alexanders II. 1881 nahm die Intensität der Verfolgungen zu. Ohne die religiösen und die für Deutschland und Frankreich typischen rassistischen und nationalistischen Komponenten war Antisemitismus ein Instrument antimoderner russischer Politik. Die von der zaristischen Geheimpolizei gefälschten »Protokolle der Weisen von Zion«, die als Beweis einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung dienen sollten, waren Element einer Politik, die jüdische Bevölkerung des Zarenreichs zu diffamieren.
 
 Auf dem Weg zur nationalsozialistischen Staatsdoktrin in Deutschland
 
Im Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland erneut aktiviert. Ungeachtet der Tatsache, dass das deutsche Judentum die allgemeine Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 ganz und gar teilte und dass die Zahl der jüdischen Freiwilligen — gemessen am jüdischen Bevölkerungsanteil — übermäßig groß war, machte das Gerücht von der »jüdischen Drückebergerei« die Runde, des Weiteren war als zweites antisemitisches Stereotyp die Überzeugung landläufig, dass Juden als die »geborenen Wucherer und Spekulanten« sich als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten. In zahlreichen Publikationen wurden diese Klischees verbreitet, so etwa in einem Flugblatt, das im Sommer 1918 kursierte, auf dem die jüdischen Soldaten lasen, wovon ihre nichtjüdischen Kameraden und Vorgesetzten trotz der vielen Tapferkeitsauszeichnungen (30000) und Beförderungen (19000) und trotz der 12000 jüdischen Kriegstoten bei insgesamt 100000 jüdischen Soldaten überzeugt waren: »Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht«.
 
Nachdem sich ab Ende 1915 die antijüdischen Eingaben und Denunziationen häuften, die behaupteten, jüdische Wehrpflichtige seien in großer Zahl vom Kriegsdienst befreit und die Juden im Militärdienst seien vor allem in der Etappe zu finden, befahl der preußische Kriegsminister am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse der deutschen Juden im Kriege. War diese Anordnung zur »Judenzählung« an sich schon eine antisemitische Monstrosität, so macht die Tatsache, dass die Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, die Angelegenheit vollends zum Skandal. Wenn die »Judenzählung«, wie behauptet wurde, amtlich die Unhaltbarkeit der Beschwerden beweisen sollte, so sanktionierte sie, weil das Resultat trotz jüdischer Forderungen geheim blieb, die antisemitischen Ressentiments mit lang anhaltender Wirkung, von der die NSDAP und andere Rechtsparteien die ganze Weimarer Republik hindurch profitieren konnten. Der Aufklärungsarbeit des »Reichsbunds jüdischer Frontkämpfer« zum Trotz, der bis 1933 die Öffentlichkeit auf den tatsächlichen Einsatz der deutschen Juden im Weltkrieg aufmerksam machte, blieb eine große und zunehmend einflussreiche Zahl von Deutschen davon überzeugt, »die Juden« seien Drückeberger gewesen und hätten den Krieg vor allem zu unsauberen Geschäften benutzt. Auch wegen dieser Folgewirkungen konnte die Judenzählung im Heer als »die größte statistische Ungeheuerlichkeit« bezeichnet werden, »deren sich eine Behörde je schuldig gemacht hat« (Franz Oppenheimer 1922).
 
Die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik brachte für die deutschen Juden zwar den Höhepunkt ihrer kulturellen Assimilation, zugleich aber schon den Beginn der sozialen Dissimilation. Antisemitische Propagandisten, die Schuldige für die als schmachvoll empfundenen Folgen des Kriegs suchten, verängstigte deklassierte Kleinbürger und diejenigen, die ihren Nationalstolz verletzt sahen, machten »den Juden« zum Sündenbock. Völkische und nationalistische Parteien, vor allem die NSDAP und die Deutschnationale Volkspartei, gewannen demokratie- und republikfeindliche Teile der Bevölkerung für ihre Politik. Ihr Antisemitismus projizierte Existenzängste auf Juden, konkretisierte sie dadurch und gab zugleich vor, die Ursachen für diese Ängste gründeten nicht in der Gesellschaft als Ganzes, sondern in einem isolierbaren Teil und konnten mithin gesondert bewältigt werden. Ergebnis der antisemitischen Agitation waren unter anderem der Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 und Attentate auf andere demokratische Politiker jüdischer Herkunft.
 
Dass man die nationale Zuverlässigkeit der deutschen Juden infrage stellte, ihnen den Vorwurf doppelter Loyalität (»erst Jude, dann Deutscher«) machte, zeigte den Wunsch nach Ausgrenzung, der in der Unterstellung einer Kriegserklärung »der Juden« an das deutsche Volk im Frühjahr 1933 anlässlich der Boykottaktion vom 1.April einen ersten Höhepunkt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler der von der NSDAP propagierte Antisemitismus Staatsdoktrin geworden. Nicht nur Joseph Goebbels an der Spitze des Reichspropagandaministeriums oder Julius Streicher mit seinem Hetzblatt »Der Stürmer« bemühten sich, unter Verwendung gängiger Stereotypen feindselige Zerrbilder über Juden zu verbreiten, die den Weg zum organisierten Massenmord bereiteten. Parolen der NSDAP wie »Juda verrecke« und der SA wie »Wenn's Judenblut vom Messer spritzt« wurden durch Filme wie »Der ewige Jude« oder »Jud Süß« (beide 1940) transportiert; antisemitische Propaganda war allgegenwärtig und infizierte schließlich einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Dem Boykott als einer Geste der Drohung folgten im Frühjahr 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« und zahllose Rechtsakte, so 1935 die »Nürnberger Gesetze«, durch die die deutschen Juden ihre bürgerlichen Rechte verloren, bis hin zur Verordnung von 1941, die das Tragen des Judensterns vorschrieb, und der Verfügung von 1943, mit der sie unter Polizeirecht gestellt wurden. Mit diesen Maßnahmen war der Weg beschritten, der für zwei Drittel der europäischen Juden in der Vernichtung endete.
 
Prof. Dr. Wolfgang BenzHolocaust: Die rassistische Vernichtungspolitik Deutschlands
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Judentum zwischen Spätantike und Aufklärung
 
Literatur:
 
Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems.2 Teile. Stuttgart 1980.
 Bergmann, Werner: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989. Frankfurt am Main u. a. 1997.
 Claussen, Detlev: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus. Neuausgabe Frankfurt am Main 1994.
 Erb, Rainer und Bergmann, Werner: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860. Berlin 1989.
 Greive, Hermann: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Neuausgabe. Darmstadt 1995.
 
Jahrbuch für Antisemitismusforschung, herausgegeben für das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Frankfurt am Main u. a. 1992 ff.
 Katz, Jacob: Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819. Aus dem Hebräischen. Berlin 1994.
 Katz, Jacob: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933. Aus dem Englischen. Lizenzausgabe Berlin 1990.
 Lichtblau, Albert: Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867-1914. Berlin 1994.
 Pulzer, Peter G. J.: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Aus dem Englischen. Gütersloh 1966.
 Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1987.
 Sottopietra, Doris: Variationen eines Vorurteils. Eine Entwicklungsgeschichte des Antisemitismus in Österreich. Wien 1997.
 Volkov, Shulamit: Die Juden in Deutschland 1780-1918. Aus dem Englischen. München 1994.
 
Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, herausgegeben von Wolfgang Benz und Werner Bergmann. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.


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