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CHRISTENTUM UND SOZIALE FRAGE: DIE GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG DER KIRCHEN

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Christentum und soziale Frage: Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen
 
Die Heftigkeit, mit der sich Marx gegen die Religion und die Kirche als ihrer historischen Gestalt wandte, war darin begründet, dass Religion in seinen Augen den gesellschaftlichen Status quo zementierte. Lange Zeit schienen sie die elende Situation der Fabrikarbeiterschaft und ihrer Familien oder die sozialen Probleme, denen die gesellschaftlichen Veränderungen durch die rasch wachsenden Großstädte zugrunde lagen, gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Indes wurde den Kirchen klar, dass sie dem radikalen gesellschaftlichen Wandel, der sich unter ihren Augen vollzog, nichts entgegenzusetzen hatten. Angesichts des Zerfalls der Sozialstrukturen und Bindungen flüchteten sich die Kirchen über weite Strecken in ein romantisch-mittelalterliches Kirchenverständnis. Unverhältnismäßig lange waren sie unfähig, auf das Zusammenbrechen der alten gesellschaftlichen Ordnungen zu reagieren. Dies lag vor allem daran, dass die Hauptkritik an den gesellschaftlichen Umständen aus den Reihen des Liberalismus und Rationalismus kam und es sich bei beiden Strömungen um die Hauptgegner der Kirchen handelte. Die frühe christliche Sozialkritik des 19. Jahrhunderts war dann auch stark von der Romantik geprägt, und ihre Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage sahen neben staatlicher Fürsorge eine restaurative Besinnung auf christliche Werte und die ständische Gliederung der Gesellschaft vor.
 
Aus diesen Komponenten bestand auch das sozialreformerische Programm des konservativen Freiburger Professors Franz Joseph Buß.Neben konkreten praktischen Erfordernissen wie der Beschränkung der Kinder- und Sonntagsarbeit, der Einführung amtsärztlicher Betreuung, der Kranken- und Unfallversicherung versprach er sich von der Rückkehr zum Zünfte- und Ständewesen - er gehörte selbst dem Ritterstand an - eine Beseitigung der Armut der breiten Bevölkerung. Des Weiteren forderte er eine Werkgemeinschaft der Fabrikbesitzer und Arbeitnehmer und trat für eine Selbsthilfe der Proletarier ein. Stärker noch als er sind der Professor für Philosophie Franz von Baader und der Staatswissenschaftler Adam Heinrich Müller von der Ständeidee fasziniert. Die Industriearbeiterschaft sollte in einem eigenen Stand organisiert und von Priestern betreut werden. Damit ergebe sich eine gesellschaftliche Gliederung, in der die adligen Landbesitzer für die Landwirtschaft, die Geistlichkeit für das geistige Leben zuständig sein, das Bürgertum hingegen das Kapital und die Arbeiter ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen sollten. Immerhin erkannten sie eine freie, gleichberechtigte Übereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als gefährlichen Selbstbetrug und mahnten gleichermaßen die einseitige Betonung des Materiellen wie auch die Ungleichheit der Vermögensverteilung innerhalb der Gesellschaft ihrer Zeit an.
 
Als die bedeutendsten Repräsentanten dieser katholisch-sozialen Bewegung können der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler und Adolf Kolping gelten. Kolpings Anstrengungen richteten sich darauf, in konfessionsübergreifenden Gesellenvereinen den Handwerkern sozialpädagogische Betreuung sowie religiös-sittliche Hilfestellung zu leisten. In seiner Betonung sozialer Gerechtigkeit wurde er zu einem der Begründer der katholischen Soziallehre. Das von ihm ins Leben gerufene und bis heute fortbestehende Kolpingwerk wuchs zu einer internationalen katholischen Laienorganisation heran, die sich gleichermaßen der Fortbildung und der Familienfürsorge wie der Geselligkeit widmete. Kettelers Versuch der Einrichtung christlicher Fabriken unter der Aufsicht von Priestern, die ein klösterlich organisiertes christliches Gemeinschaftsleben mit Messfeier, Gebet, Andacht und Gesang während und vor der Arbeit etablieren sollten, erwies sich schon bald als nicht praktikabel und verlief im Sande. Es bleibt sein Verdienst, als einer der Ersten offen für eine Beschränkung wirtschaftlicher Freiheit zugunsten der Interessen der Arbeitnehmerschaft plädiert und eine Kontrolle vonseiten des Gesetzgebers gefordert zu haben.
 
Erst von der Mitte des 19. Jahrhunderts an machte sich der Katholizismus zeitgemäßere Gesellschaftstheorien zu Eigen. Gerade Ketteler wurde jetzt zum Motor einer Neuorientierung, die sich zwar nicht die Abschaffung des Kapitalismus zum Ziel gesetzt hatte, aber doch die sozialen Verhältnisse der Arbeitnehmer deutlich und nachhaltig verbessern wollte. 1869 entwarf Ketteler in einer wegweisenden Rede vor vielen tausend Arbeitern bei Offenbach ein Programm, das von vielen als »Magna Charta« der katholischen Arbeitnehmerbewegung verstanden wurde. Er erklärte die Lösung der sozialen Frage zur gemeinsamen Aufgabe von Kirche und Staat, anerkannte das Koalitions- und Streikrecht und forderte Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, die Zusage von Ruhetagen und ein Verbot von Kinder- und Mütterarbeit. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Gründung des »Deutschen Caritasverbandes« 1897 und der ersten päpstlichen Sozialenzyklika »Rerum novarum« (= nach Neuerungen [begierig]) 1891, in der die marxistische Gesellschaftsanalyse der Sache nach bestätigt und zu einem gesellschaftlichen Konsens in der sozialen Frage aufgerufen wurde. Damit hatte die Kirche endlich den ersten Schritt getan, sich die Ideen und Freiheiten der Französischen Revolution und der Menschenrechte zu Eigen zu machen und in ihre Soziallehre zu integrieren.
 
Die enge Verbindung von Kirche und Staat in den evangelischen Landeskirchen hat offizielle Reaktionen auf die drängenden sozialen Probleme lange verschleppt. Das Verhaltensmuster war dem der katholischen Kirche nicht unähnlich; allerdings hatten sich dort in der Tradition von Pietismus und Erweckungsbewegungen längst zahlreiche Gemeinschaften gebildet, die sich der sozialen Belange der Unterprivilegierten, der Industriearbeiter und Waisenkinder angenommen hatten. Die evangelisch-kirchliche Sozialarbeit des 19. Jahrhunderts begann mit dem Patriarchen der Erweckung Berlins Hans Ernst von Kottwitz, der in seiner 1807 gegründeten freiwilligen »Armenbeschäftigungsanstalt« brotlosen Arbeitern Hilfe zur Selbsthilfe angeboten hatte. Infolge der Kriege gegen Napoleon entstanden in Eigenregie engagierter Protestanten eine Reihe von Waisenhäusern, »Rettungsanstalten«, die Kinder und Jugendliche durch familiäres Umfeld und handwerkliche Ausbildung vor dem Abgleiten ins Verbrechen bewahren wollten.
 
Diese individuellen Initiativen organisatorisch zu bündeln hatte sich der Theologe Johann Hinrich Wichern zur Aufgabe gemacht. Selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und daher mit den konkreten Problemen bestens vertraut, gründete Wichern in Hamburg 1833 das »Rauhe Haus«. In dieser Erziehungsanstalt mit angegliedertem Verlag sammelte er die zu Hunderten umherirrenden - meist noch schulpflichtigen - Jugendlichen aus den Hamburger Slums. Durch eine Stegreifrede auf dem Kirchentag in Wittenberg löste er 1848 die Gründung der »Inneren Mission« aus, einer innerkirchlichen Erneuerungsbewegung, die den Liebesdienst als Grundfunktion der Kirche auffasste und sich ausgehend von der Jugendarbeit bald weiteren sozialkaritativen Arbeitsfeldern zuwandte. Gezielt trieb er die Diakonie voran, indem er eine speziell zu diesem Zweck ausgebildete »Brüderschaft« ins Leben rief. Neben der Jugendarbeit lag ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit auf der Gefängnisreform. Hier humanisierte er den Strafvollzug durch den Übergang von der Massen- zur Einzelhaft, setzte geschultes Personal als Aufseher und Betreuer ein und betrieb systematisch die Resozialisierung der Straffälligen. Bei seinem Tod hinterließ er ein über ganz Deutschland ausgedehntes Netzwerk von Wohlfahrtseinrichtungen wie Jugendheimen, Stadtmissionen und Herbergen, die Sozialbenachteiligten offenstanden und Obdachlosen zur Heimat werden konnten.
 
Wicherns Werk fand seine Fortsetzung in Friedrich von Bodelschwingh, der 1872 bei Bielefeld die Epileptikerheilanstalt Bethel aufbaute, aus der - unter der Leitung seines Sohnes - die »Stadt der Barmherzigkeit« hervorging. Auch Bodelschwingh widmete sich noch anderen Randgruppen wie den Obdachlosen und Kranken und schuf 1885 sogar einen Verein zur »Beschaffung eigener Wohnungen mit Grundbesitz für die deutschen Fabrikarbeiter«, eine Vorform der heutigen Bausparkassen. Wie schon im katholischen Bereich, so verhalfen auch im evangelischen erst der Zusammenschluss von Arbeiterverbänden und das direkte politische Engagement den Anliegen der evangelisch-sozialen Bewegung zum Durchbruch. Die Christlich-soziale Arbeiterpartei, die der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker 1878 gründete, sollte den protestantischen Anliegen auf der politischen Bühne Gehör verschaffen, während die 1871 gegründete Zentrumspartei Sprachrohr des politischen Katholizismus wurde.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
Literatur:
 
Geschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 1995.
 
Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 
Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, herausgegeben von Jean-Marie Mayeur u. a. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox. Band 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830—1914). Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.
 Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Aus dem Dänischen. Göttingen 1987.
 
Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, herausgegeben von Carl Andresen und Adolf Martin Ritter. Band 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität. Studienausgabe Göttingen 21998.
 Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
 Mühlenberg, Ekkehard: Epochen der Kirchengeschichte. Heidelberg u. a. 21991.
 Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit derReformation. Tübingen 52000.


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