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BÜCHNER: SCHRIFTSTELLER, WISSENSCHAFTLER, REVOLUTIONÄR

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Büchner: Schriftsteller, Wissenschaftler, Revolutionär
 
Dreiundzwanzig Jahre war Büchner alt, als er in seinem Züricher Exil an Typhus starb. Sein kurzes Leben war dicht gefügt und obendrein außerordentlich schöpferisch, als habe es darin keine Langeweile gegeben, allenfalls Atempausen zwischen Gewaltanstrengungen. Vielleicht wegen des Vorgefühls eines frühen Todes drängte er in seine drei letzten Lebensjahre außer Dantons Tod und dem Entwurf des Hessischen Landboten zwei literarische Übersetzungen und eine naturwissenschaftliche Abhandlung; im Nachlass fanden sich darüber hinaus ein vollendetes Lustspiel (Leonce und Lena), Bruchstücke eines bürgerlichen Trauerspiels (Woyzeck) und das Fragment einer Novelle (Lenz) sowie rund 600 Seiten philosophischer Studien und Exzerpte. Und zwischen all dem noch die politische Arbeit und die Liebe zu einer Straßburger Pfarrerstochter, die ans Sterbebett gerufen wurde und dem Toten die Augen zugeküsst hat. Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind: cineastische, literarische, auch wissenschaftliche. Stoff für Gedichte, Erzählungen, Romane, Hör- und Schauspiele, Opern, Fernseh- und Filmproduktionen, für Tausende von Essays, Aufsätzen und Abhandlungen.Georg Büchner ist das Genie, das nicht alt wird.
 
Gleich auf drei Feldern erwarb er sich Meriten: als Wissenschaftler, als Schriftsteller und als politisch Handelnder. Ein akademisch gebildeter Künstler und Radikaldemokrat, die außergewöhnliche Synthese aus wissenschaftlichem Interesse, literarischer Produktivität und gesellschaftlichem Engagement. Und kein anderer deutschsprachiger Künstler ist mit einem vergleichbar bedeutenden Oeuvre (und unausgesprochenen Versprechungen für Weiteres, noch Bedeutenderes) so früh gestorben: nicht Georg Heym, nicht August Macke, nicht Franz Schubert, nicht Georg Trakl.
 
Mit seinen Dichtungen hat sich Büchner in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Radikale Skepsis und provozierende Offenheit, künstlerische Intuition und politisches Engagement, ein hoher formaler Anspruch und ein unsentimentales Gefühl des Mitleidens haben ihn zum Wegbereiter der literarischen Moderne gemacht, richtungweisend für die Weltliteratur und für das Welttheater. Im Unterschied zu vielen anderen Dichtern seiner Zeit sah Büchner nicht über die soziale Misere hinweg, die für seine Epoche ebenso charakteristisch ist wie die industrielle Aufbruchstimmung und der biedermeierliche Habitus des deutschen Bürgertums. Sein politisches Handeln hatte die (Selbst-)Befreiung der »großen Klasse« der Produzenten zum Ziel, und alle seine Dichtungen offenbaren ein tiefes soziales Empfinden mit dem »von materiellen Bedürfnissen gequälten Sein« und die revolutionäre Sehnsucht nach einem besseren Weltzustand.
 
 Ein kurzes Leben
 
Am 17. Oktober 1813, einem Sonntag, wurde Karl Georg Büchner im großherzoglich-hessischen Goddelau, einem Bauerndorf drei Fußstunden südwestlich der Residenzstadt Darmstadt, als Sohn des Amtschirurgen Doktor Ernst Büchner geboren.
 
Der Vater stammte aus einer traditionsreichen Wundarztfamilie und war stolz auf die durch Fleiß, Selbstdisziplin und Geschicklichkeit erreichte bürgerliche Stellung. Zivilcourage und Liberalismus des Vaters fanden jedoch ebenso wie seine Napoleonverehrung ihre Grenze in der bedingungslosen Loyalität des Staatsbeamten gegenüber seinem Landesherrn. Analog dazu verlangte er auch als Familienvater Respekt und widerspruchslose Unterordnung. Mit seiner pedantischen Strenge und Härte legte er bei seinem Erstgeborenen ungewollt den Keim zu einer fundamentalen Opposition, die sich bald schon nicht mehr bloß gegen den staatsbürgerlich angepassten Vater richtete, sondern mit einer strikten Ablehnung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse einherging. Wenn Büchner seiner Familie dennoch aufs Engste verbunden blieb, dann wegen des versöhnenden Einflusses seiner Mutter, die nicht müde wurde, zwischen dem »heftig aufstrebenden Sohn« und dem »strengen entschiedenen Vater« (Luise Büchner) zu vermitteln. Caroline Büchner, aus einer gesellschaftlich höher gestellten hessisch-elsässischen Beamtenfamilie stammend, wird als vielseitig interessierte, freundlich-heitere, zugleich aber resolute Frau geschildert, mit allen Fähigkeiten zur Führung eines zuletzt neunköpfigen Haushalts. Unter den sechs Kindern des Ehepaars ragen neben Georg der Arzt und materialistische Philosoph Ludwig Büchner (Kraft und Stoff, 1855) und die Frauenschriftstellerin Luise Büchner (Die Frauen und ihr Beruf, 1855) hervor. Noch bis zur Jahrhundertwende waren beide berühmter als ihr großer Bruder.
 
1816 siedelte die Familie nach Darmstadt über, wo Georg Büchner das altsprachliche Gymnasium besuchte und eine solide humanistische Bildung erhielt.
 
Nach rund zehnjähriger Schulzeit schrieb sich Büchner im Herbst 1831 an der Medizinischen Fakultät der Académie in Straßburg ein. Er wohnte bei einem entfernten Verwandten, dem protestantischen Pfarrer Jaeglé, mit dessen Tochter Wilhelmine er sich im Frühjahr 1832 heimlich verlobte.
 
Fast zwei Jahre studierte Büchner in Straßburg. Vor seinen Augen vollzog sich ein sozialer Wandel, der sich in seiner hessischen Heimat erst andeutete. In der elsässischen Metropole erlebte er modellhaft die wachsende Macht einer neuen Geldaristokratie. Büchner war überzeugt, damit einen Blick in Deutschlands Zukunft getan zu haben, sollte es den demokratischen Kräften dort nicht gelingen, die Interessen der »Kleinen Leute« gegen den Egoismus des liberalen Wirtschafts- und Finanzbürgertums durchzusetzen.
 
Mit der durchaus neuen Einsicht, »dass nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann« und »alles Bewegen und Schreien der Einzelnen« dagegen »vergebliches Torenwerk« ist, kehrte Büchner im Spätsommer 1833 nach Darmstadt zurück.
 
 »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«
 
Im Herbst bezog Büchner die hessische Landesuniversität in Gießen. Doch die politischen Verhältnisse waren bedrückend. Einem Freund schrieb er: »Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und die Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.«
 
In der Historie suchte Büchner Rat. Er vertiefte sich in die Lektüre der französischen Revolutionsgeschichte. Sie ließ ihn im Geschichtsprozess einen »grässlichen Fatalismus« walten sehen, einen (oberflächlich vom Zufall beherrschten, chaotischen) ewigen Kampf zwischen Privilegierten und Unterdrückten. Jede durchgreifende Umwälzung musste daher in erster Linie sozial orientiert sein; ihre Ergebnisse mussten jenen zugute kommen, die sie mit Waffen und Fäusten gemacht haben. »Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten geteilt und muss von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden«, heißt es später in einem Brief.
 
Im Frühjahr 1834 entschied sich Büchner für die direkte politische Einmischung. Unter den damaligen Bedingungen konnte die oppositionelle Arbeit nur konspirativ und im Verborgenen verrichtet werden. Büchners Konzept war pragmatisch und ohne Selbsttäuschung. Er wusste, wie schwierig es ist, die Bauern und Handwerker »aus ihrer Erniedrigung hervor[zu]ziehen«, und dass in Deutschland nicht der Massenaufstand die Regel ist, sondern das Ertragen der »dumpfen Leiden«. Ansatzpunkt für die revolutionäre »Bearbeitung des Volks« waren nach seiner Ansicht Flugschriften, die auf eindringliche Weise die Ausbeutungsverhältnisse schildern. Einem Freund vertraute er an: »Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volks geschehen, durch deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen. Es handelt sich also darum, die große Masse zu gewinnen, was vor der Hand nur durch Flugschriften geschehen kann.«
 
Anfang 1834 gründete Büchner in Darmstadt und Gießen zwei Sektionen der »Gesellschaft der Menschenrechte«, einer revolutionären Geheimverbindung mit strikt republikanischer und egalitärer Zielsetzung. Gleichzeitig entwarf er eine Flugschrift, die in Absprache mit einem der maßgeblichen hessischen Oppositionellen entstand, dem Schulrektor Friedrich Ludwig Weidig in Butzbach. Weidig war es, der dem Text den Titel Der Hessische Landbote gab, ihn obendrein aus taktischen Gründen vielfach abschwächte und auch tendenziell veränderte. Auf eine gemeinsame politische Strategie konnten sich Büchner und Weidig nicht einigen. Auch andere führende liberale Oppositionelle meldeten Vorbehalte gegenüber Büchners radikalem Konzept an. Hinzu kam der Verrat der Flugschriftenaktion durch einen Spitzel der großherzoglichen Regierung. Nach den ersten Verhaftungen meldete sich später auch ein Kronzeuge zu Wort. Insbesondere Büchner war durch eine Denunziation schwer belastet. Doch weil der Untersuchungsrichter aus ermittlungstaktischen Gründen eine Verhaftung ablehnte, konnte Büchner im Spätsommer 1834 zunächst unbehelligt ins Elternhaus zurückkehren.
 
In den folgenden Monaten schrieb Büchner Dantons Tod, ein Geschichtsdrama von shakespeareschen Dimensionen über die Machtkämpfe unter den Jakobinern in Paris aus der Zeit der Französischen Revolution, die Büchner in vieler Hinsicht als modellhaft erkannte. In den Konflikten der zerstrittenen Parteien sah Büchner eine wesentliche Ursache für das Scheitern der Revolution, und zweifellos verband er mit seinem Drama die Hoffnung, dass »die Leute daraus lernen« möchten, wie es Ende Juli 1835 in einem rechtfertigenden Brief an die Familie heißt. Dantons Tod verbindet, zitiert und parodiert Elementarpoesie und Schulbankwissen, deutsche Klassik und französische Romantik, Shakespeares Geschichtsdramen und das Drama der Geschichte. Nicht so sehr einzelne Neuerungen machen die Originalität dieses Lesedramas aus, sondern die Art und Weise, wie Büchner verschiedene Traditionslinien zusammengeführt hat.
 
Büchner mochte sein Stück als Zeitstück verstanden wissen, der Verlag verkaufte es jedoch mit dem trivialhistorischen Untertitel Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft als geschichtliches Schreckspiel, was indes die Rezeption in breiten Publikumskreisen eher erleichtert haben dürfte. Büchner wollte demonstrieren, dass auch die historischen Individuen keine reinen Inkarnationen des Weltgeists sind, sondern Menschen mit Gefühlen und Widersprüchen. Was Historiker oftmals als »historische Größe« und »Herrschaft des Genies« beschrieben hatten, erwies sich für Büchner bei näherem Hinsehen als »bloßer Zufall« und »Puppenspiel«, in dem der »Einzelne« lediglich »Schaum auf der Welle« der Volksbewegung ist. Diese schier denunziatorische Auffassung der »revolutionären Charaktere« ist im Lager der liberalen Opposition vereinzelt auch als »höchst kleinlich« kritisiert worden. Insgesamt aber konnte sich Büchner trotz manch scharfer Kritik von rechts wie von links bereits frühzeitig als Dichter der Revolution etablieren: In einer umfassenden Literaturanthologie aus dem Jahr 1848 wird Dantons Tod wie selbstverständlich der »Weltliteratur« eingereiht, und der französische Schriftsteller Jules Claretie ging bereits 1868 davon aus, das Drama würde in Deutschland mit großem Erfolg aufgeführt, was allerdings erst ab 1902 der Fall war, 67 Jahre nach der Erstveröffentlichung: Im März/April 1835 erschien ein gekürzter Vorabdruck in der Zeitschrift Phönix; im Sommer kam die Buchausgabe heraus. Verantwortlicher Lektor war in beiden Fällen der jungdeutsche Autor und Kritiker Karl Gutzkow.
 
Gutzkow berichtete später, er habe »große Mühe« mit dem Manuskript von Dantons Tod gehabt: »Es tobte eine wilde Sansculottenlust in der Dichtung; die Erklärung der Menschenrechte wandelte darin auf und ab, nackt und nur mit Rosen bekränzt. .. Als ich nun, um dem Zensor nicht die Lust des Streichens zu gönnen, selbst den Rotstift ergriff und die wuchernde Demokratie der Dichtung mit der Schere der Vorzensur beschnitt, fühlt ich wohl, wie grade der Abfall des Buches, der unsern Sitten und unsern Verhältnissen geopfert werden musste, der beste, nämlich der individuellste, der eigentümlichste Teil des Ganzen war. Der echte Danton von Büchner ist nicht erschienen. Was davon herauskam, ist ein notdürftiger Rest, die Ruine einer Verwüstung, die mich Überwindung genug gekostet hat.«
 
 »Ich verlange in Allem — Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut«
 
Seit dem Herbst 1834 zog sich das Netz der juristischen Ermittlungen gegen die hessischen Republikaner immer dichter zusammen. Anfang März floh Büchner nach Straßburg. Dort lebte er zunächst mit den Papieren eines elsässischen Weinkellners, ehe er im Herbst eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung erwirkte. Während in Deutschland sein Drama gedruckt wurde, setzte er im französischen Exil seine philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien fort, um sich in absehbarer Zeit als Hochschuldozent eine Existenzgrundlage zu schaffen.
 
Nebenbei übersetzte er, im Auftrag von Johann David Sauerländers Verlag, zwei Theaterstücke des Romantikers Victor Hugo, dem Autor des Glöckners von Notre Dame (1831), ins Deutsche, Marie Tudor und Lucrèce Borgia - Letzteres nach Heinrich Heine ein »Brechpulver in 5 Akten«, ein »Gemisch aus Blut, Gift und Inzest«, beides aber ausgesprochene Zugstücke. Zwar gelang es Büchner, Pathos und rhetorische Klischees der französischen Schauerromantik auf ein Minimum zu reduzieren, doch blieben Hugos Melodramen auch in Büchners behutsamer Übertragung ihrer trivialliterarischen Herkunft verhaftet. Als Honorar erhielt Büchner 100 Gulden, was nach heutigem Wert etwa 1 600 DM entspricht, die gleiche Summe, die ihm Sauerländer auch für die Veröffentlichung des Danton gezahlt hatte.
 
Ab dem Sommer 1835 entstand eine Novelle über den Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. Persönliche und literarische Auskünfte und nicht zuletzt der Genius Loci der elsässischen Hauptstadt, des einstigen Sammelpunkts der Sturm-und-Drang-Bewegung, brachten Büchner die Figur des unglücklichen Poeten nahe. Fünf Jahrzehnte war es her, dass Lenz, der einstige Goethe-Freund, in halbwahnsinnigem Zustand für einige Tage bei dem philanthropischen Pfarrer Oberlin in Waldersbach im elsässischen Steintal Obdach gefunden hatte. Lenz ist die Fallstudie eines künstlerischen, psychischen und damit auch sozialen Gratwanderers, wie sie eindringlicher nie geschrieben wurde. Büchner offenbart hier eine bis zum Extrem gesteigerte Durchlässigkeit des eigenen Ich für die Inhalte und Identitäten eines anderen, der Autor Lenz wird aufgrund »verwandter Seelenzustände« (Ludwig Büchner) Medium eigener Ansichten und Befindlichkeiten.
 
Mit der Lenz-Novelle betrat Büchner literarisches Neuland: Neu ist die mitempfindende literarische Darstellung einer schizophrenen Psychose, neu sind auch die am Rande mitformulierten Grundsätze einer anti-idealistischen Ästhetik: »Ich verlange in Allem - Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ists gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.« Doch die Novelle blieb unvollendet.
 
Im Sommer 1836 reichte Büchner bei der Hochschule in Zürich eine Abhandlung über das Nervensystem der Flussbarbe ein, wofür er wenige Wochen später den Doktortitel der Philosophischen Fakultät erhielt. Im Laufe dieses Jahres entstanden parallel zwei Dramen: Am 2. September 1836 berichtete er nach Hause, er sei »gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen«.
 
Die satirische Komödie Leonce und Lena war ursprünglich als Wettbewerbsbeitrag zu einem literarischen Preisausschreiben des renommierten Cotta-Verlags vorgesehen, dessen Einsendeschluss Büchner aus Nachlässigkeit knapp verpasste. Nach dem erst wenige Monate zurückliegenden Verbot der literarischen Avantgarde (»Junges Deutschland«) durch einen Beschluss des Deutschen Bundes 1835 konnte er kein Klartextstück riskieren. So griff er zu literarischer Schmuggelware, formulierte einen neuen, subversiven Text auf alter, romantischer Melodie. Sie hat sowohl die strukturelle Anlage als auch Einzelheiten des Dialogs geprägt. Leonce und Lena ist die Travestie des romantischen Lustspiels, eine Harlekinsjacke aus literarischen Versatzstücken, geschrieben mit der schwarzen Tinte des Hasses.
 
Innerhalb der Gattungsmöglichkeiten ging Büchner, der ein Jahr zuvor seine Muse als verkleideten Scharfrichter bezeichnet hat, bis an die äußersten Grenzen des Zumutbaren: Ohne Pathos und mit überlegenem Spott demonstrierte er die fragwürdige Legitimität des Systems, das er schon in seiner Flugschrift attackiert hatte. Dort, im Hessischen Landboten, hat er auch bereits die Fabel seines Lustspiels skizziert: »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen. ..« Den Bauern und Handwerkern, verdeutlichte er dort, seien derartige Vergnügungen verwehrt, ihnen bleibe nur der Blick »durch die geöffneten Glastüren« auf »das Tischtuch. .., wovon die Herren speisen«. Eben diese Perspektive offenbart sich auch in Leonce und Lena. Eine solche Lesart deutet Büchner bereits in der mottohaften »Vorrede« an, einem assoziationsreichen Wortspiel, das er den italienischen Dramatikern Vittorio Alfieri und Carlo Gozzi in den Mund legt: »E la fama? E la fame?« (»Ist es Ruhm? Ist es Hunger?«) Diese von seinen dichtenden Kollegen kaum gestellte »Magenfrage« liegt auch Büchners »komischer Dichtung« zugrunde.
 
Doch das Lustspiel ist ebenso wenig wie der Danton ein Agitationsstück, das den Leser für die soziale Umwälzung mobilisieren soll. Die Möglichkeit einer Revolution von unten war für Büchner, ohne dass er seine Hoffnung auf eine Selbstbefreiung der Ausgebeuteten je aufgegeben hat, mittlerweile in weite Ferne gerückt. 1835 schrieb er an seinen Bruder Wilhelm, er habe sich seit einem halben Jahr »vollkommen überzeugt, dass nichts zu tun« sei, »und dass jeder, der im Augenblicke sich aufopfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte« trage. So zeigt er in seinem Lustspiel zwar eine skurrile und erschöpfte, aber durchaus stabile Welt des Spätabsolutismus.
 
Dramatisches Gegenstück zum »höfischen« Lustspiel ist die soziale Tragödie Woyzeck, mit der Büchner, erstmals in der Geschichte der europäischen Literatur, einen sozialen Außenseiter zur dramatischen Hauptfigur machte: Nach dem Revolutionär Georges Danton, dem Dichter Lenz und dem Prinzen Leonce rückte Büchner nun mit dem Stadtsoldaten Franz Woyzeck, der im Zustand physischer wie psychischer Zerrüttung seine Geliebte ersticht, einen »Massencharakter« ins Zentrum seiner Dichtung, dessen Biografie geradezu ein Musterbeispiel für die Lage des sozial deklassierten Handwerks zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist. Die düstere Massenarmut, die zur Epoche ebenso gehört wie Dampfmaschine und Eisenbahn, Agrikulturchemie und Telegraf, grundiert das Stück und ist in vielen Details greifbar. In der Darstellung von Armut und entfremdeter körperlicher Arbeit gelangte Büchner auf eine Stufe der Konkretion, wie sie im deutschsprachigen Drama noch auf Jahrzehnte undenkbar war. Sowohl die Stoffwahl als auch der Verzicht auf den üblichen hohen Tragödienton machen Woyzeck zu einem Meilenstein in der Entwicklung des Sprechtheaters. Auch Woyzeck blieb unvollendet, überliefert sind nur titellose Fragmente.
 
Der Plan zu einem weiteren Drama, das den Renaissanceschriftsteller Pietro Aretino zum Mittelpunkt haben sollte und das man sich wohl als »Gangsterstück« (Peter Hacks) vorzustellen hat, ist belegt, doch scheint es nicht zur Ausführung gekommen zu sein. Sofern dennoch an der Existenz eines abgeschlossenen Aretinoschauspiels festgehalten wird, würde dies voraussetzen, dass Büchner sein Manuskript bereits einem Verleger, einem Journalisten oder einem vielleicht selbst schriftstellernden Freund übergeben hat und sämtliche Vorarbeiten vernichtete und dass sich obendrein in seinem Nachlass keinerlei Spuren fanden, die auf einen entsprechenden Kontakt schließen ließen.
 
 »Die Schweiz ist eine Republik. ..«
 
Im Oktober 1836 siedelte Büchner als politischer Asylant nach Zürich über. Nach einer erfolgreich absolvierten Probevorlesung begann Büchner im November als Privatdozent mit Vorlesungen über Vergleichende Anatomie. Gleichzeitig arbeitete er weiter an seinen Dichtungen, ohne jedoch jemanden »in die stille Werkstätte seines rastlosen Geistes« blicken zu lassen. Seinem Bruder Wilhelm schrieb er lapidar: »Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern.« Seine Verlobte in Straßburg erfuhr immerhin, er wolle »in längstens acht Tagen Leonce und Lena mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen«.
 
 »Ich werde nicht alt werden. ..«
 
Büchners ohnehin angegriffene Gesundheit war der Mehrfachbelastung von Wissenschaft, Poesie und Alltagsgeschäften auf Dauer nicht gewachsen. Schon in Straßburg hatten ihn seine Studien, häufig »von morgens früh bis um Mitternacht«, an den Rand totaler Erschöpfung geführt. Als seine Mutter und die Schwester Mathilde ihn dort im Spätsommer besuchten, schien er zermürbt von den »anhaltenden geistigen Anstrengungen« der letzten Zeit, und er selbst behauptete damals oft, er »werde nicht alt werden«. Dennoch konnte sich Büchner auch jetzt in Zürich keine Pause gönnen.
 
 Langes Nachleben
 
Mehr als 150 Jahre nach seinem Tod ist Georg Büchner immer noch ein aktueller Autor. Das liegt wohl daran, dass er in seinen Dichtungen auf eine ungemein konkrete und zugleich allgemein gültige Weise Fragen gestellt hat, die bis heute ungelöst geblieben sind. Denn viel war seither von Büchners »Gegenwärtigkeit« die Rede, nicht erst bei Rudi Dutschke: Schon die Revolutionäre von 1848 staunten über die schier unheimliche Aktualität von Büchners »Prophezeiungen, Warnungen, Mahnungen, Schilderungen«. Auch die künstlerische Zeitgenossenschaft setzte die Nachgeborenen immer wieder in Erstaunen. Die Realisten der 1870er-Jahre erkannten nicht ohne Verwunderung, dass ihr radikalster Vertreter bereits seit vier Jahrzehnten tot war. Um die Jahrhundertwende entdeckte man plötzlich, dass dieser Autor die just so beliebte Vereinigung von Realistik und Romantik längst aufs Schönste praktiziert hatte. Der sanfte Rainer Maria Rilke pries Woyzeck 1915 als »den Weg« des modernen Dramas, Bertolt Brecht bezeichnete Dantons Tod als »kräftige Hilfe« für den modernen Bühnenautor.
 
Die letzten Jahrzehnte standen dann wieder im Zeichen einer stärker politischen Bezugnahme, wie sie etwa in den Büchnerpreisreden von Heinrich Böll, Golo Mann und Erich Fried zum Ausdruck kam. Fried hielt es 1987 für wahrscheinlich, dass sich Büchner, lebte er heute, zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte: »Büchner war kein Apostel der Gewaltlosigkeit. In Büchner »hätte Deutschland«, meinte 1850 nicht minder kühn sein Weggefährte Wilhelm Schulz, »seinen Shakespeare bekommen«. Was für Prognosen! Gottfried Keller, der wiederum ein enger Freund von Wilhelm Schulz in dessen Züricher Exil war, sprach dagegen 1880 von viel Frechheit und viel Reminiszenz oder Nachahmung bei wenig Neuartigkeit und Selbstständigkeit.
 
Strittig geht es bis heute zu. Heiner Müller, 1988: »Mit Büchner fängt eigentlich die moderne Dramatik an.« Peter Hacks, 1991: Mit Büchner fängt gar nichts an, »nicht einmal der Anfang vom Ende«.
 
Jan-Christoph Hauschild
 
Literatur:
 
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Reinbek 14.-16. Tsd. 1997.
 Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Taschenbuchausgabe Berlin 1997.
 Jürgen Seidel: Georg Büchner. München 1998.


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