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FEUDALISMUS: FAMILIE, HAUS, GRUNDHERRSCHAFT IM MITTELALTER

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Feudalismus: Familie, Haus, Grundherrschaft im Mittelalter
 
Die siedlungstopographischen und herrschaftlichen Bedingungen im frühmittelalterlichen Europa scheinen sich einem systematisierenden Ordnungsbegriff zu entziehen. Zu unzusammenhängend sind die durch Siedlung erschlossenen Landschaften, zu uneinheitlich die herrschaftlich erfassten Räume. Die natürliche Umwelt besteht überwiegend aus unzugänglichem Wald und Sumpfland, sodass weite Regionen, insbesondere im Norden und Osten Europas, von menschlichem Leben kaum oder nicht berührt sind. In Mittel- und Westeuropa geben lediglich die Flusstäler mit ihren fruchtbaren Böden Raum für Siedlung und Ackerbau. Die antiken Stadtlandschaften Galliens und Italiens gehören auch nach der Völkerwanderung noch zu den dichtest besiedelten Gebieten. Die Siedlungszentren der Karolingerzeit an Rhône, Loire und Seine, im Rhein-Main-Gebiet und in der Oberrheinebene, zwischen Niederrhein und Maas bleiben bis ins hohe Mittelalter weitgehend konstant.
 
 Bevölkerung und Siedlung im frühen Mittelalter
 
Die Siedlungsräume liegen isoliert wie Oasen in einer dem Menschen feindlichen Naturlandschaft. »Wo Land zur Rodung geeignet ist, soll man roden und verhindern, dass die Felder wieder vom Wald überwuchert werden; und wo Wälder nötig sind, soll man nicht zulassen, dass sie zu stark ausgeholzt und geschädigt werden«, mahnt Karl der Große.Das der Natur mühsam abgerungene Siedlungsland ist nicht auf Dauer gewonnen; es muss ständig gehegt und vor dem schnell wachsenden »wüsten Wald« bewahrt werden. Ausbauphasen und »Wüstungsphasen« können in einer Region innerhalb weniger Generationen wechseln. Andererseits, wo Menschen auf Dauer sesshaft werden und wirtschaften, wird der Bestand an Wild und Holz rasch dezimiert — Waldsterben durch Menschenhand schon im frühen Mittelalter!
 
Es ist unmöglich, für diese Zeit verlässliche Bevölkerungszahlen anzugeben. Wenn frühmittelalterliche Chronisten überhaupt einmal eine Zahl nennen — viele Tausend Tote in einer Hungersnot! —, wollen sie das Ausmaß der Katastrophe illustrieren, keine Opferstatistik erstellen. Eine in der Bibel gefundene Zahl kann dafür aussagekräftiger sein als eine exakte Zählung. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse, die genaueres Zahlenmaterial enthalten, die Besitzverzeichnisse der geistlichen Grundherrschaften, repräsentieren jeweils nur einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung. Andere Anhaltspunkte für Bevölkerungsberechnungen liefern Gräberfelder mit Skelettfunden, vereinzelte Siedlungsreste und die Ortsnamenforschung. Alle diese Befunde ergeben nur Momentaufnahmen, beziehen sich auf eine bestimmte Region, auf einen begrenzten Zeitraum. Angesichts solcher Unsicherheiten sind sämtliche Versuche, die spärlichen Daten zu einer Gesamtbevölkerungszahl hochzurechnen, mit Vorbehalten zu betrachten. Vielleicht kann man — eher hoch geschätzt — von rund vierzig Millionen Menschen ausgehen, die um das Jahr 1000 in Europa gelebt haben, fast die Hälfte, 17 Millionen, in den Mittelmeerländern, 6 Millionen in Frankreich, 4 Millionen in Deutschland und Nordeuropa, knapp 10 Millionen in den slawischen Ländern und in Ungarn.
 
 Begrenzte Horizonte
 
Die Siedlungs- und Kommunikationsbedingungen im frühen Mittelalter begrenzen die räumliche Erfahrung auf die unmittelbare Umgebung. Der Lebensraum der allermeisten Menschen bleibt zeitlebens das Dorf, der Weiler, das Gehöft, wo sie geboren wurden. Jenseits des Waldes liegt die unbekannte Ferne. Von dort haben die meisten nur ungewisse Kunde vom Hörensagen, und was man erzählen hört, von Dämonen, bösen Geistern, Zauberei, macht Angst. Gut, wer in finsterer Nacht einen mächtigen Zauberspruch weiß: »Die höchste göttliche Macht, der heilige Heilige Geist, das Heil, der heilige Herr, alle sollen mich noch heute Nacht schützen vor den bösen Nachtfahrern, vor den Wegeschreitern, vor den Zaunreitern. Truden und Mahren, ihr sollt heraus zum Dachfirst fahren!« Das »Raunen der Wälder« klingt in mancherlei Weise bedrohlich.
 
Eng wie der Lebensraum ist auch der soziale Horizont. Wo Erfahrungen auf kleine Räume beschränkt sind, bieten überregionale, ethnische oder nationale Kategorien keine identitätsstiftenden Merkmale. Wenn die Quellen von »Aquitaniern« und »Burgundern« sprechen, sind dies Herkunftsnamen; sie bezeichnen die Leute aus Aquitanien oder aus Burgund. Ein gentiles Bewusstsein, eine Volksidentität ist kaum zu erkennen. Als »Völker« verstehen sich im frühen Mittelalter die Franken, Alamannen, Bayern, Sachsen, nicht aber »Deutsche« und »Franzosen«. Der »deutsche« König Otto der Große wurde vom »Volk der Franken und Sachsen« erhoben; sein Reich war wie das Karls des Großen fränkisch.
 
Der persönliche soziale und rechtliche Status wird nicht durch eine gentile oder regionale Bindung bestimmt. Ausschlaggebend ist die Verwandtschaft. Dabei ist von einem weiteren Verwandtschaftsbegriff auszugehen als im späten Mittelalter oder in der Neuzeit. Noch umfasst er nicht nur die Vater-Sohn-Folge, die agnatische Linie (der lediglich im Erbrecht schon früh eine gewisse Exklusivität zukommt), sondern — im Sinne eines Clan- oder Sippenverständnisses — sämtliche (kognatischen) Seitenverwandten und weiblichen Familienangehörigen. Mit der gesamten »Sippe« ist zu rechnen, fragt man nach dem gesellschaftlichen Rang und dem Selbstbewusstsein einer Familie oder eines ihrer Angehörigen. Das Versepos »Ruodlieb«, im späten 11. Jahrhundert entstanden, berichtet vom Verfahren einer Brautwerbung: Die »Blutsverwandten« und — noch umfassender — die »Freunde«, also auch die Verschwägerten und andere Vertraute der Familie versammeln sich nach Rang und Namen im Haus der Herrin und beraten über eine geeignete Gemahlin für ihren Sohn.
 
 Adel verpflichtet
 
Es versteht sich von selbst, dass für den Besitzstand einer Familie so bedeutsame Entscheidungen wie eine Eheschließung nicht Privatsache der Eheleute sind. Ehen werden von Verwandten gestiftet, sind das Ergebnis bewussten Kalküls, nicht emotionaler Affekte. Denn der soziale Rang einer Familie ist ja nicht für alle Zeiten festgelegt; er hängt ab von Umfang und Qualität ihres Besitzes, der zwar seit Generationen gewachsen, aber doch auch ständig gefährdet ist. Mit dem Besitz, d. h. dem Reichtum an Grundbesitz, sind Macht und Ansehen veränderlich, steht der soziale Status zur Disposition, der je nach Erfolg erhöht oder gemindert wird. Den einmal erworbenen Besitz zu bewahren oder besser noch zu mehren, ist daher höchste Adelspflicht, Schmälerung des Besitzes entsprechend stets mit Ehrverlust und Machtminderung verbunden. Die greise Mutter Ruodliebs spricht von ihrer steten Sorge um würdige Nachkommen, damit das Familiengut erhalten bleibt: »Wenn du ohne Kinder stirbst, sag, mein Sohn, was wird dann sein? Um unsre Güter wird es großen Streit geben.« Sie wünscht ihrem Sohn eine Gattin, »von der du weißt, dass ihre Verwandtschaft in beiden Linien von der Art ist, dass wiederum eure Nachkommenschaft auf keiner Seite hinkt, und deren Betragen deine Ehre nicht schmälert.«
 
Jeder adlige Herr steht unter dem sozialen Erwartungsdruck, seinen Grundbesitz zu vermehren und zu sichern, vergleichbar dem Erfolgsdruck eines modernen Spitzenmanagers. Doch anders als für diesen hängt für den frühmittelalterlichen Grundherrn vom Erfolg seiner Herrschaft das physische Überleben seiner selbst und seines Hauses ab. Denn der glücklos Herrschende wird rasch zur Beute seiner Genossen, die demselben Ethos verpflichtet und demselben Erfolgsdruck ausgesetzt sind. Dieser besteht ja nicht nur als soziale Konvention unter Gleichgestellten (deren Kehrseite »nur« der Gesichtsverlust des Versagers wäre); Druck entsteht auch als Forderung von unten: Die abhängigen (unfreien) Menschen einer Grundherrschaft haben Anspruch auf »Schutz und Schirm«, auf Wahrung ihres Rechts. Kommt ein Herr — aus Unvermögen oder Versäumnis — dieser Herrenpflicht nicht nach, läuft er Gefahr, dass seine Hörigen schutzlos fremdem Zugriff ausgeliefert sind und von einem anderen Herrn vereinnahmt werden, der sie wirksamer »schützen« kann. Über die Sicherung der eigenen materiellen Existenz hinaus ist die Wahrung des Grundbesitzes im Mittelalter also auch eine soziale Verpflichtung. Was einer besitzt, solle er so besitzen, als gehörte es ihm nicht, gibt um die Mitte des 9. Jahrhunderts die hochadlige Dhuoda ihrem Sohn mit auf den Weg, denn: »Manch einer streitet und sagt: Mein ist das Land, und er achtet nicht das Wort des Psalmisten: Dem Herrn gehört das Land (Ps. 23, 1).« Adel verpflichtet, weil Besitz verpflichtet.
 
 Herrschaft über Land und Leute
 
Grundbesitz bedeutet »Herrschaft über Land und Leute« (Walter Schlesinger). Als Mittel der Rechtswahrung nach außen dient dem Herrn die Fehde. Sie ist das Recht des Freien, notfalls mit Gewalt für die Wahrung seines Rechts zu sorgen. In einer Zeit, die ein staatliches Gewaltmonopol (des Königs oder einer anderen übergeordneten Exekutive) nicht kennt, kommt der Fehde eine rechtsstiftende Funktion zu. Dass sie freilich auch missbräuchlich angewandt werden konnte und in manchen Epochen — etwa im Frankreich des 11. Jahrhunderts oder im spätmittelalterlichen Deutschland — vielfach zum regellosen Fehdeunwesen eskalierte, soll damit nicht geleugnet werden.
 
Innerhalb der Grundherrschaft wirkt die Hausgewalt des Herrn. Das Haus (domus, davon dominus, der »Herr«) gilt seit alters als Sonderfriedensbezirk. Die Tradition des römischen pater familias mit seiner uneingeschränkten Gebotsgewalt gegenüber allen Mitgliedern des Hauses ist offenkundig. Aber auch das germanische Recht kannte die herausgehobene, kultisch begründete Stellung des Hausherrn. Im Mittelalter erstreckt sich das Herrenrecht — wie schon im römischen Haus — nicht nur auf die biologische Familie des Herrn, sondern ebenso auf alle anderen Hausgenossen sowie überhaupt auf alle freien und unfreien Angehörigen der Grundherrschaft. Familia bezeichnet den gesamten Personenverband einer Grundherrschaft, ungeachtet der im Einzelnen sehr verschiedenen Rechtsbeziehungen zum Herrn. In jedem Falle umfasst die Herrengewalt die Pflicht zur Friedenswahrung im Innern, zu Schutz und Haftung nach außen, zum Erhalt von Herrschaft und Besitz und — ein grundlegender Unterschied zum antiken Herrenrecht — zum Schutz und Unterhalt aller unter dem Recht des Grundherrn (Hofrecht) lebenden Menschen. Das vom Herrn zu sichernde Recht auf Leben und Auskommen — und vielleicht weniger seine konkrete Lebenswirklichkeit — erhebt den mittelalterlichen Leibeigenen über den Sklaven der antiken Gesellschaften. Die grundherrliche familia bildet außerhalb der Verwandtschaft den weiteren sozialen Raum, in den der Mensch des frühen Mittelalters hineingeboren wird und dem er sich verbunden weiß.
 
 Ein grundherrliches Hofgut
 
Grundherrschaften größerer Ausdehnung bestehen aus mehreren Gütern (villae), die geographisch weit gestreut liegen können. Zur Abtei Saint-Germain-des-Prés bei Paris gehören im 9. Jahrhundert 25 solcher Güter, die meisten im Umkreis von 50 km um die Abtei gelegen, einzelne aber 150 km entfernt an der Seinemündung oder westlich im waldreichen Perche. Zusammengenommen umfasst die Grundherrschaft über 30000ha Land (Ackerland, Weinberge, Wiesen, Wald), auf den Gütern leben insgesamt 1600 Familien (d. h. rund 10000 Personen). Jede villa setzt sich zusammen aus Herrenland mit einem Herrenhof (Fronhof) und Hufenland, das an abhängige Bauern (Hörige) ausgegeben ist. Auf einem Hofgut — wir nehmen als Beispiel die villa Palaiseau, südwestlich von Paris, mit etwa 1200ha Land — leben unfreie Familien auf 117 Bauernstellen, also etwa 500 Menschen. Die ausgegebenen »Hufen« sind so bemessen, dass sich jeweils eine Familie vom Ertrag einer Hufe (mansus) ernähren kann; entsprechend schwanken die Hufengrößen je nach Anbau und Bodenergiebigkeit stark (allein in Palaiseau zwischen 3 und 20ha).
 
Dafür, dass sie eine Bauernstelle innehaben, die sie bewirtschaften und von der sie ihren Unterhalt bestreiten, leisten die Hufenbauern Abgaben und Dienste. »Für jede Hufe entrichtet er in jedem zweiten Jahr einen Ochsen, im andern Jahr ein Schwein, zur Ablösung vom Holzschlag vier Pfennige, für die Weideerlaubnis zwei Fässer Wein, ein Mutterschaf mit einem Lamm, ferner drei Hühner, fünfzehn Eier«, wird für Walafred, seine Frau und seine beiden Kinder bestimmt. Seine Abgaben sind höher bemessen, denn er ist — obwohl nur Halbfreier (Kolone) — Verwalter des Gutes Palaiseau und hält allein zwei Hufen, die mit je 10ha Ackerland, dazu noch Weinberge und Wiesen, ergiebiger sind als die anderen Hofstellen. Belastender als die Abgaben sind die zu leistenden (häufig ungemessenen) Frondienste: Mit ihren »Hand- und Spanndiensten« bearbeiten die Hufenbauern das Herrenland ihrer villa, dessen Erträge unmittelbar dem Herrn zufließen. Neben den weitgehend selbstständig wirtschaftenden hörigen Bauern gibt es noch die »Leibeigenen«, die als Gesinde der Herrengewalt unmittelbar ausgeliefert sind.
 
 Gestreute Herrschaften — mobile Herren
 
Typisch für die Grundherrschaft ist die Streulage der Güter über weite Strecken. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie unter den Kommunikations- und Verkehrsbedingungen der Zeit weit entlegener Besitz verwaltet und geschützt werden kann. Nicht nur dass die Strassen schlecht sind oder überhaupt fehlen, Nachrichten über größere Distanzen wochenlang unterwegs sind, es gibt eben auch keine kontinuierlichen Aufzeichnungen über Besitzverhältnisse und Einkünfte. Nicht einmal der König weiß genau, mit welchen Erträgen er rechnen kann: »Auch von unseren Königsgütern sollen Aufstellungen gemacht werden, damit wir wissen können, wie viel uns von unseren eigenen Gütern zusteht«, fordert Karl der Große, ohne dass eine Reaktion erkennbar wäre. Wer aus heutiger Sicht den mittelalterlichen Zeitgenossen die Häufigkeit und Heftigkeit ihrer — bei weitem nicht immer gewaltsam ausgetragenen — Auseinandersetzungen um Besitz und Herrschaft ankreidet, bei ihnen Hitzköpfigkeit und naive Streitlust diagnostiziert, der unterschätzt das systembedingte Konfliktpotenzial, dem sie ausgesetzt waren.
 
Grundherrschaft ist also nicht territorial, nicht auf ein fest umrissenes Gebiet bezogen, sondern punktuell auf die Wahrnehmung bestimmter, im Einzelfall schwer beweisbarer Rechte an verschiedenen Orten. Herrschaft müsste unter diesen Umständen allgegenwärtig sein. Tatsächlich zeichnet sich der Adel des frühen und hohen Mittelalters durch eine erstaunliche Mobilität aus (im Gegensatz zu dem oben betonten kleinräumigen Horizont der in grundherrlicher Abhängigkeit lebenden Menschen). Die Streulage ihres Besitzes zwingt die Großen zum ständigen Reisen. Für den König — dessen Herrschaft zum großen Teil ja ebenfalls auf grundherrlichen Rechten basiert — ist die »Reiseherrschaft« ohne feste Residenz gut belegt. Wie der König ziehen auch alle anderen Grundherren, die Bischöfe, die Äbte und ihre Prioren, die großen und kleineren Herren, unablässig durch die Lande, besuchen ihre verstreuten Besitzungen, nehmen vor Ort ihre Rechte wahr, prüfen und nutzen ihre Einkünfte, inspizieren den Zustand der Güter, kontrollieren und maßregeln die Dienstleute, entscheiden Streitfälle, sprechen Recht und verschaffen sich Recht gegenüber benachbarten Herrschaften.
 
Die schon erwähnte Dhuoda, Gemahlin des Grafen Bernhard von Septimanien, verfasste 842/843 ein »Handbuch« für ihren damals sechzehnjährigen Sohn Wilhelm. Ihre Verhaltensregeln für den Sohn enthüllen Lebensumstände adliger Herrschaft im frühen Mittelalter. Geheiratet hat Dhuoda 824 in der Pfalz in Aachen. Während sie das Handbuch schreibt, lebt sie in Uzès (im Languedoc), wo sie im Auftrag ihres Mannes die Familiengüter verwaltet, während sich Bernhard selbst in Aquitanien aufhält. Sie berichtet von der Geburt ihres jüngsten Sohnes in Uzès, sagt aber nicht, wo Wilhelm geboren ist. Er wird irgendwo unterwegs zur Welt gekommen sein, vielleicht auf der langen Reise von Aachen nach Südfrankreich. Dhuoda gibt ihrem Sohn genaue Anweisungen, wie sie einmal ihr Begräbnis wünscht, selbst den Grabspruch hat sie schon verfasst, aber wo ihre Grabstätte sein wird, weiß sie nicht. Die Situation Dhuodas ist typisch für den Adel ihrer Zeit: Die Güter liegen über weite Regionen verstreut, der Herr und die Vertrauten seiner Familie sind fast ohne Pause unterwegs, um den Besitz zusammenzuhalten. Ein herrschaftliches Zentrum, ein Familiensitz, wo man Hochzeit feiert, wo die Kinder geboren und die verstorbenen Angehörigen betrauert werden, überhaupt ein lokaler Lebensmittelpunkt kann unter diesen Umständen ebenso wenig entstehen wie für das Reich — die Herrschaft des Königs — eine Hauptstadt. Die vielen Burgen und Herrensitze, die wir rückschauend so selbstverständlich als typische Relikte mittelalterlicher Herrschaft verstehen, wurden unter herrschaftlichen und sozialen Bedingungen errichtet, die das Mittelalter selbst erst spät hervorgebracht hat.
 
 Herrscherinnen
 
Das Selbstzeugnis Dhuodas wirft auch ein Licht auf die Rolle der Frau im frühen Mittelalter. Gewiss trifft es zu, dass die Frau gegenüber dem Mann allgemein einen minderen Rechtsstatus hat; sie benötigt in Rechtsgeschäften den Beistand eines Mannes (des Ehemannes, Vaters oder Bruders). Dennoch dürfen wir sie uns nicht als entmündigt vorstellen. Für Dhuoda ist es selbstverständlich, dass sie in Abwesenheit des Herrn selbst Herrschaft wahrnimmt, zwar im Auftrag ihres Mannes, gleichwohl mit eigenem Entscheidungsspielraum und Risiko: Sie setzt ihr eigenes Vermögen ein, um den gefährdeten Familienbesitz zu retten. Dhuoda ist »Herrin« im wörtlichen Sinne. Wir wissen von bedeutenden Königinnen, die für ihre minderjährigen Söhne bzw. Enkel die Regentschaft führten, Theophano und Adelheid für Otto III., Agnes für Heinrich IV. Aber auch zu Lebzeiten des Herrschers ist die Königin mehr als schmückendes Beiwerk an seinem Thron. Die Urkunden nennen sie mehrfach consors regni, »Partnerin im Königtum«, mit eigener Hofhaltung, eigenem Itinerar, also mit herrschaftlichen Aufgaben nicht nur an der Seite des Königs. Am karolingischen Hof ist die Königin dem Kämmerer unmittelbar vorgesetzt und damit für die Repräsentation des Hofes und den königlichen Schatz zuständig. Die »familiären«, letztlich auf der Hausherrschaft gründenden Strukturen der Herrschaft binden die Frau gerade nicht an das Haus im engeren Sinne, sondern in größerem Maße als in späteren Jahrhunderten in herrschaftliche Funktionen ein. Die Dame, die auf den Zinnen ihrer Burg entsagungsvoll nach dem Geliebten schmachtet, ansonsten aber süßes Nichtstun pflegt, ist eine schöne Erfindung der Romantik. Mit der Lebenswirklichkeit und dem Selbstverständnis einer mittelalterlichen Herrin hat sie nichts gemein.
 
Dr. Arnold Bühler, Frankfurt
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Bauern: Das Leben der Landbevölkerung im Mittelalter
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung


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