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BÜRGERTUM: »ELITE« ZWISCHEN ADEL UND PROLETARIAT

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Bürgertum: »Elite« zwischen Adel und Proletariat
 
Die Geburt des modernen Bürgertums war ein Ereignis des 18. Jahrhunderts. In den Jahren um die Jahrhundertwende wuchs es heran, um dann im 19. Jahrhundert, das häufig auch als das »bürgerliche« bezeichnet wird, seine Hochzeit zu erleben. Verglichen mit dem Adel oder dem Bauernstand handelt es sich um eine eher junge und auf den ersten Blick kurzlebige historische Erscheinung, die jedoch ihre Zeit entscheidend prägte, über die eigenen Grenzen hinaus wirkte und Werte und Vorstellungen verkörperte und vermittelte, deren mehr oder minder markante Spuren bis heute vielerorts noch auffindbar sind.
 
 Die Wurzeln des Bürgertums
 
Die Wurzeln des europäischen Bürgerbegriffs reichen weit in die Geschichte zurück. Seiner sprachlichen Herkunft nach gehört »Bürger« zu dem Wort »Burg«, das früh auch eine Bezeichnung für »Stadt« sein konnte. Für die deutsche Wortgeschichte blieb diese Ableitung bestimmend, während sich in den romanischen Ländern unter dem Einfluss der lateinischen Kultur und Sprache bereits im hohen Mittelalter zwei oder auch mehrere Bezeichnungen für »Bürger« herausbildeten.So gesellte sich im Französischen im 11. und 12. Jahrhundert zu dem Wort bourgeois die Bezeichnung citoyen dazu, während der deutsche Sprachbereich bis heute nur das zunehmend vieldeutig verwandte Wort »Bürger« kennt.
 
Die sprachgeschichtliche Nähe des Begriffs zur Stadt, die den gemeineuropäischen Bürgerbegriff kennzeichnet, hat seinen Ursprung im antiken Stadtstaat. Für Aristoteles bedeutete die polis die Vereinigung von Bürgern, die »bürgerliche Gesellschaft« schlechthin. Doch nicht allein sein Vermögen (Landbesitz) und die Gemeinsamkeit des Ortes, sondern die Teilhabe und Teilnahme an der dortigen Herrschaft machte den antiken Stadtbewohner erst eigentlich zum Bürger. Eben dies unterschied ihn von den übrigen Einwohnern, den Knechten, Bauern, Händlern und Tagelöhnern.
 
Unter dem Einfluss des Christentums erfuhr der Bürgerbegriff eine Ausweitung. Die im Neuen Testament verkündete Idee der Bürgerschaft aller Menschen im zukünftigen Gottesstaat fand, angestoßen von der gleichnamigen Schrift des frühchristlichen Kirchenlehrers Augustinus, weite Verbreitung. Neu war nun vor allem auch die Einbeziehung der Arbeit in den Bürgerbegriff.
 
Entscheidend für diese Umgestaltung des Begriffs und seine reale Füllung war die Entstehung eines neuen Typs von Bürgergemeinden im mittelalterlichen Europa. Seit dem 11. Jahrhundert bildeten sich inmitten der grundherrlich-agrarisch geprägten Gesellschaft des Abendlandes die Städte als genossenschaftliche Verbände »freier« Bürger heraus. »Stadtluft macht frei« — dieses geflügelte Wort erfanden Historiker rückblickend, um das vergleichsweise freiheitliche und selbstbestimmte Dasein städtischer Bürger vor dem Hintergrund einer ansonsten in herrschaftlichen Zwängen befangenen Welt hervorleuchten zu lassen. Doch auch die Bürger mittelalterlicher Städte, wenngleich weitgehend unabhängig von adliger Herrschaft und Landbesitz, waren Teil einer feudalen Welt und damit eingebunden in ihre Regeln und Reglementierungen. Immerhin gehörte jedoch zu ihrem Selbstverständnis das Wissen um die Möglichkeiten politischer Teilhabe, das Gefühl, durch eine gemeinschaftlich beschlossene Rechtsordnung gegen Willkür geschützt zu sein, und die Überzeugung, dass die Wahrnehmung verbriefter Rechte und Pflichten das Wohl der Gesamtheit gewährleistet. Überlieferungen zufolge haben Stadtbürger überall in Europa zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert ihr Zustimmungs- und Kontrollrecht dem Rat gegenüber immer wieder eingefordert und durchgesetzt. Nichts Geringeres als Mitsprache und Rechtssicherheit standen auf dem Spiel; Gewalt und Unterdrückung durch diejenigen, die wirklich das Sagen hatten, galt es in Zaum zu halten und abzuwehren.
 
Neben diesen politischen Belangen kümmerten sich die Bürger der mittelalterlichen Städte vor allem als Kaufleute und Handwerker um ihren Lebensunterhalt. Gewerbe und Handel, vom antiken Bürgertum als »unbürgerlich« verschmäht, wurden zulässige Bestandteile des bürgerlichen Lebens. Mehr noch: Die Sphäre der Arbeit wurde nicht nur als angemessen anerkannt, sondern konnte sich nun auch in einem vorher nicht gekannten Ausmaß entfalten.
 
 Die drei Ursprünge des modernen Bürgertums
 
Der Typus des mittelalterlichen Stadtbürgers gehörte zu einer der drei sich überschneidenden gesellschaftlichen Kategorien, aus denen das moderne Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts entstand. Dieser Stadtbürger unterschied sich zunächst einmal rechtlich sowohl von allen Angehörigen der ländlichen Gesellschaftsschichten, zu denen Adlige, Bauern, Kleinbauern, Gesinde, Landhandwerker und Heimgewerbetreibende zählten, als auch von der großen Masse der in den Städten lebenden Unterschichten wie dem Gesinde, den Arbeitern, den Handwerksgesellen, den Betreibern »unehrenhafter« Gewerbe und den Armen. Die zumeist männlichen Inhaber des Bürgerrechts durften innerhalb der Stadtmauern einem selbstständigen Erwerb nachgehen, eine Familie gründen und einem Haushalt vorstehen, Handel treiben, Ständevertretungen, Zünften und Vereinen beitreten. Sie hatten in begrenztem, doch wachsendem Umfang teil an der städtischen Selbstverwaltung, durften Wälder und Wiesen der städtischen Allmende, des Gemeinguts, nutzen und konnten im Fall der Armut und Hilflosigkeit mit Fürsorge durch die Gemeinde rechnen. Im Gegenzug hatten sie Steuern zu entrichten und sich einer eigenen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Das Bürgerrecht war ein exklusives Recht. Es wurde durch Geburt erworben oder konnte auf Antrag auch an Bewerber verliehen werden, die bestimmte Bedingungen hinsichtlich ihres Vermögens und ihrer Leistung erfüllten. Prinzipiell stand auch Frauen dieses Recht zu — doch nur in eingeschränktem Umfang. Erst als Witwe durfte eine Frau einen ererbten Handwerks- oder Handelsbetrieb in eigener Regie mit allen den daran geknüpften Rechten und Pflichten führen; als Ehefrau besaß sie diese Befugnis hingegen nur indirekt, über ihren Mann vermittelt. Außerdem war es ihr verwehrt, über die inneren Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen. Im 18. Jahrhundert sucht man weibliche Amtsträger, Frauen als Ratsmitglieder oder auch Wählerinnen vergebens.
 
In der Regel konnte nur eine größere Minderheit zwischen zehn und dreißig Prozent innerhalb der gesamten städtischen Bewohnerschaft das volle Bürgerrecht für sich in Anspruch nehmen. Dazu gehörten selbstständige Handwerksmeister, wohlhabende Kaufleute, Ladenbesitzer und Gastwirte, in den größeren Städten vor allem seit dem 15. und 16. Jahrhundert auch Ärzte, Juristen und Angehörige der protestantischen Geistlichkeit. Ungeachtet der einigenden Sonderstellung durchzog auch die städtische Bürgerschaft eine hierarchische Ordnung, die im städtischen Alltags- und Festtagsleben, etwa in den strengen Kleiderordnungen, in den mehr oder minder pompösen Hochzeitsfeiern oder der Länge des Glockengeläuts bei Beerdigungen, ihren Niederschlag fand.
 
Darüber hinaus entwickelte dieses Stadtbürgertum des Ancien Régime bereits Ansätze einer eigenständigen Kultur mit besonderen Normen und Lebensformen. Man schätzte die Arbeit, strebte nach Besitz, zeigte sich religionsverhaftet, bemühte sich um Sparsamkeit und Rechtschaffenheit, beharrte auf einer abgestuften Gesellschaftsordnung und beanspruchte begrenzte politische Mitsprache. In Ländern, in denen diese mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Traditionen und Ideen der europäischen Bürgerstadt nicht auffindbar sind, wie etwa in Japan oder Russland, fehlte später eine wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg des modernen Bürgertums.
 
Ungeachtet dieser Vorläuferrolle zeigten sich weite Teile des alten Stadtbürgertums gerade gegenüber Herausforderungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts gesamteuropäisch auf der Tagesordnung standen, als äußerst traditionsverhaftet und neuerungsfeindlich. Man hatte sich hinter seinen Stadtmauern eingerichtet, der Alltag war von Not frei, wohl geordnet und risikolos. Und diese Lebensqualität galt es zu bewahren.
 
Anders dachten und lebten zwei neu aufkommende Gesellschaftsschichten, die schon von den Zeitgenossen ebenfalls zum Bürgertum gezählt wurden und die in dem Maße, in dem sich die ständische Ordnung des Ancien Régime im Laufe des 18. Jahrhunderts Schritt für Schritt verflüchtigte, das überkommene, rückwärts gewandte Stadtbürgertum immer mehr an den Rand drängten. Gemeint sind das Wirtschaftsbürgertum und das Bildungsbürgertum. Es handelte sich um Aufsteigerschichten, die zumeist außerhalb der altständischen Sozialordnung kometenhaft emporkamen, dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und getragen von Selbstvertrauen. Zwar waren auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schichten in Erscheinung getreten, doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allem ihr Einfluss. Teils entstammten sie dem alten Stadtbürgertum, vielfach waren sie mit ihm durch Heirat verflochten, teils kamen sie von außerhalb. Sie waren die Nutznießer evolutionärer Prozesse der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen, die Gewinner des Aufschwungs und der Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftsbereichs und der sich durchsetzenden Bürokratisierung mit ihrer zunehmenden Betonung von wissenschaftlicher Ausbildung. Anfangs ergänzten, später verdrängten sie die alte Honoratiorenschicht.
 
Der aufstrebenden Schicht des Wirtschaftsbürgertums gehörten zunächst die Besitzer und Direktoren großer Wirtschaftsunternehmen, der Verlage, Manufakturen und Bergwerke, der Groß- und Fernhandelshäuser, der Transport- und Bankunternehmen und der frühen Fabriken an. Häufig waren sie — dies gilt vor allem für Mitteleuropa, in noch höherem Maße aber für Osteuropa — als Gründer oder Leiter der neuen Unternehmen durch Eingriffe der Regierung, durch fürstliches oder königliches Privileg von den Vorschriften der zünftig geregelten städtischen Wirtschaft ausgenommen. Zwar verdienten auch sie ihren Lebensunterhalt wie die Mehrheit des alten Stadtbürgertums durch Handel und Gewerbe, doch die Dimensionen ihrer Unternehmungen reichten weit über dessen Möglichkeiten und Vorhaben hinaus. Entsprechend aufwendiger gestaltete sich ihr Lebensstil und entsprechend hochfliegender waren ihre Zukunftsträume. Wollten sie im Wettbewerb bestehen, mussten sie über den Tellerrand der städtischen Kleinwelt mit ihrem traditionellen Ordnungsdreieck von Zunft, Brauch und Moral hinausblicken. Auch wenn dieses neue Wirtschaftsbürgertum europaweit in Erscheinung trat, zeigte es sich doch örtlich — je nach Stand und Fortschrittstempo der Industrialisierung — unterschiedlich stark verankert. Kreise dieser häufig auch als Bourgeoisie bezeichneten Gesellschaftsschicht, die in London, Liverpool, Paris, Lyon, Bordeaux oder Amsterdam aufgrund der dort früher in Gang gekommenen Industrialisierung bereits im ausklingenden 18. Jahrhundert fest etabliert waren, ließen sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Hamburg, Leipzig, Frankfurt, Danzig, Bremen oder Augsburg nieder, ohne dass sie dort vor der Jahrhundertmitte eine vergleichbare Macht beanspruchen konnten.
 
Nicht zuletzt aufgrund des zumindest im westeuropäischen Vergleich verzögerten Industrialisierungsprozesses in Deutschland standen diese Wirtschaftsbürger noch lange im Schatten einer weiteren bürgerlichen Gruppierung, die in den ersten Jahrzehnten des »bürgerlichen Jahrhunderts« auf deutschsprachigem Territorium den Ton angab. Es handelte sich hier um eine Elite mit Universitätsabschluss, die sich aus gebildeten Beamten und Professoren, Hauslehrern und Hofmeistern, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Künstlern und Journalisten zusammensetzte. In ähnlicher Weise wie die bürgerlichen Unternehmer waren auch die akademisch Gebildeten, besonders die schnell wachsende Zahl der fürstlichen Diener und Staatsbeamten, »eximiert«, das heißt durch landesherrliches oder staatliches Recht, dem sie direkt unterstanden, von den Gesetzen und Regeln der Städte ausgenommen.
 
Diese zunächst schmale Schicht der Bildungsbürger entwickelte sich zu einem langsam, doch stetig wachsenden Verband, dessen Mitglieder alle ein hochspezialisiertes Wissen mitbrachten. Spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchten sie ein zumindest gleichrangiges, wenn nicht gar höheres Prestige als das alte Stadtbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum. Anders als diese verfügten Angehörige des gebildeten Bürgertums als Teil der bürokratischen Elite über politische Macht. Ihre Karrieren machten sie zunächst in öffentlichen, landesherrlichen, städtischen, landständischen, kirchlichen oder grundherrlichen Diensten, als Staatsbürger kamen sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in ein staatsunmittelbares Verhältnis. Sie bezogen relativ hohe Gehälter, genossen Privilegien im Gerichtswesen, im Militärdienst und im Steuerrecht. Als Gegenleistung erwartete man von ihrer Seite eine besondere Loyalität.
 
Dass dieses Bildungsbürgertum vor allem in Deutschland so lange die Vormachtstellung beanspruchen konnte, gründete nicht nur in der wirtschaftlichen Rückständigkeit dieser Region, sondern auch in der herausragenden Bedeutung, die die Deutschen der Bildung beimaßen. Dieser hier besonders erfolgreiche Siegeszug des Bildungsgedankens war aufs Engste mit dem Neuhumanismus verknüpft, dem gesamteuropäischen Phänomen einer Aufwertung der Antike und der Hinwendung zur antiken Kultur. Während dabei jedoch in Großbritannien und Frankreich die römische Vergangenheit im Mittelpunkt stand, fühlte man im Deutschen Reich angesichts des »Flickerlteppichs« der in viele Kleinstaaten zerklüfteten Landkarte offenbar eine stärkere Wahlverwandtschaft zur ebenfalls kleinteilig gegliederten griechischen Staatenwelt. Auch für die im Zuge genereller Säkularisierungserscheinungen verblassende Bedeutung der Religion übernahm Bildung für weite Teile des Bürgertums eine quasireligiöse Ersatzfunktion. Überdies diente sie als Kampfbegriff gegen den Adel, wurde zum vollwertigen und zeitweilig gar höherwertigen Äquivalent für Adelsprädikat und Kapitalvermögen.
 
Ungeachtet aller Unterschiede teilten das alte Stadtbürgertum und die Vertreter des neuen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums zunächst ihre städtische Verortung und Orientierung, den gemeinsamen Status des dritten Standes oder auch Mittelstandes im System der überlokalen, ständischen Repräsentation und, damit verbunden, ein Selbstbewusstsein, zu wem man nicht gehörte: zum Adel, dem katholischen Klerus, zu den Bauern und den Unterschichten.
 
 Ein Jahrhundert wird »bürgerlich«
 
Je schwächer die feudalen Strukturen wurden, desto einflussreicher und mächtiger wurde dieses neue Bürgertum. Beim Aufmarsch der »Moderne« setzte es sich an die Spitze.
 
Dieser Prozess vollzog sich in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In Großbritannien, in den Niederlanden und in der Schweiz hatte der Niedergang des Feudalismus vergleichsweise früh eingesetzt, in Skandinavien war er ohnehin nur schwach entwickelt und entsprechend sang- und klanglos untergegangen, während er in den östlichen Teilen Europas noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein beherrschend bleiben sollte. Doch in den meisten Gebieten Europas schlug dem Ancien Régime in der Zeit zwischen dem 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts die Stunde: sei es durch eine liberal-demokratische Revolution wie in Frankreich im Jahr 1789 oder durch weitaus weniger umstürzlerische revolutionäre Zwischenspiele der Jahre 1830 und 1848 wie in den meisten Teilen Deutschlands, in denen vorderhand unter der Federführung hoher Beamter, allen voran Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Fürst Karl August Freiherr von Hardenberg, zwischen 1807 und 1820 bedächtig eingeleitete Reformen »von oben« durchgesetzt wurden. Davon betroffen waren der Agrarbereich und das Gewerbe, das Bildungswesen sowie der Kommunal- und Heeressektor.
 
Diese Ereignisse zogen einschneidende Veränderungen nach sich: So gingen Schritt für Schritt die rechtlich definierten Stadt-Land-Unterschiede und die sozialen Unterscheidungslinien zwischen dem bevorrechteten Stadtbürgertum und den übrigen Bewohnern der Städte verloren; Landerwerb und -besitz hörten auf, ein Adelsprivileg zu sein; Zunftregeln wurden verwässert oder ganz aufgehoben, und die Rahmenbedingungen für eine freie Marktwirtschaft wurden geschaffen. Der Kapitalismus in Handel, Industrie und Landwirtschaft war, wenn auch in den einzelnen Bereichen und Gebieten zeitverschoben, nicht mehr aufzuhalten, während Überbleibsel der ständischen Wirtschaftsordnung langsam verschwanden. Europaweit zeichnete sich die Tendenz zu einer stärkeren Zentralisierung ab. Durch bürokratische und parlamentarische Instanzen wurde Herrschaft zunehmend kontrolliert und damit weniger »absolut«. Der Verfassungs- und Rechtsstaat rückte zum Teil sehr nah oder fand zumindest als anzustrebende Zukunftsvision wachsenden Zuspruch.
 
Angestoßen wurden diese Veränderungsprozesse vornehmlich vom Bürgertum — entweder im Verein mit dem Adel oder auch gegen ihn. Inwieweit Adel und Bürgertum miteinander kooperierten, hing von der traditionellen Stärke beziehungsweise Schwäche der Scheidelinie zwischen beiden Schichten ab. In England etwa, wo die Kommerzialisierung der Landwirtschaft früh begonnen hatte und folglich der adlige Gutsbesitzer nicht selten zugleich Unternehmer war, überdies die zweit- und später geborenen Söhne, die den Adelstitel nicht erbten, häufig »bürgerliche« Berufe in der Stadt ausübten, verschmolzen beide Schichten zu einer gemischten Elite. Ähnliches lässt sich nach der den Unterschied zwischen Adel und Bürger radikal eindämmenden Revolution in Frankreich mit seinen Notabeln beobachten und auch in Schweden mit seiner ohnehin nur schwachen Adelstradition und wenig markanten Stadt-Land-Differenz. Doch unabhängig davon, wie stark die Trägergruppen dieser Aufbruchsbewegung des 19. Jahrhunderts auch mit Vertretern anderer sozialer Schichten durchsetzt waren, trug diese überall eine unverkennbar bürgerliche Handschrift. »Arbeit ist des Bürgers Zierde«, dichtete Fried- rich Schiller in seinem »Lied von der Glocke« und formulierte damit das Credo des modernen Bürgertums, nämlich dass ein »Wohl-erworben-zu-haben« ebenso viel zählte wie ein »Wohlgeboren-zu-sein«. Leistung, Unabhängigkeit und Selbsthilfe lauteten die Gebote der Stunde; die rauchenden Schornsteine der aufstrebenden Fabrikstädte in Nordengland, Nordfrankreich und im Rheinland legten ein unübersehbares Zeugnis davon ab.
 
Gleichzeitig gewann vor allem in Mitteleuropa die staatliche Beamtenschaft an Stärke und Zusammenhalt. Das Schulwesen wurde weiter reformiert und ausgebaut, Universitäten eröffneten einen immer wichtigeren Aufstiegsweg ins Bürgertum. Gerade ihre Erziehung und Ausbildung führten Beamte und Akademiker ins Feld, um neue Ansprüche und Forderungen durchzusetzen. Allein die persönliche Leistung sollte mit Erfolg — definiert als wirtschaftlicher Wohlstand, gesellschaftliches Ansehen und politischer Einfluss — belohnt werden. Das Ausmaß des Erfolges richtete sich nach dem Grad des individuellen Einsatzes. Diese Auffassung vertraten sowohl das Wirtschafts- als auch das Bildungsbürgertum, die beide in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts weiter an Stärke und Profil hinzugewannen.
 
 Das einigende Band der gemeinsamen Kultur
 
Nicht zufällig verstanden sich die Vertreter des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums auch als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten »bürgerlichen Gesellschaft«. Schließlich waren sie es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den Studierstuben aufklärerischer Denker entworfenen Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten. Von besonderer Bedeutung war, dass sich dieses Gesellschaftsmodell gegen ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt wandte. Es forderte eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, so die berühmte Formulierung des Königsberger Aufklärers Immanuel Kant, gelungen war. Vor allem die darin enthaltene antiadlige, antiabsolutistische Stoßrichtung stieß auf breite Zustimmung, versprach sie doch den Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikaler Deutungsmacht. Dagegen setzte das Bürgertum die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane an den Willen des mündigen Bürgers zurückgebunden werden sollte. Ein neues Verhältnis zur Zeit, zum Gestern, Heute und Morgen, entstand: Bislang bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen, die Gegenwart verstanden als durch persönliche Tatkraft bestimmbar, die Zukunft als Fortschritt und als nicht schicksalhaft, sondern als weitgehend lenkbar. Ein neues, weit weniger starres Weltbild wurde bestimmend.
 
Es war ein durch und durch optimistisches Programm mit zweifellos utopischem Anstrich. Dennoch drang der Kern des Ideals bis ins Alltagsleben des Bürgertums vor und geriet zur Klammer dieser ansonsten in vielen Bereichen so zerfaserten Gesellschaftsformation. Daraus erwuchs ein Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirklichkeit deutenden Werten, kurz: eine spezifische »bürgerliche Kultur«, die die Welt eines westfälischen Pfarrers, eines Industriellen aus Manchester und eines Pariser Advokaten im Innersten zusammenhielt.
 
Zu den Mosaiksteinen dieser bürgerlichen Kultur gehörten eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und die damit verbundenen Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung nach dem Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine sympathisierende Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Schaffung und weitgehende Verwirklichung eines besonderen Familienideals.
 
Die bürgerliche Familie
 
In Abgrenzung von Wirtschaft und Politik sollte die Familie, auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, eine Komplementärwelt darstellen, einen durch das ausreichende Einkommen des männlichen Familienoberhauptes und Dienstboten freigesetzten Raum der Muße für Frau und Kinder, einen Ruhehafen im rastlosen Getriebe der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die die Familie selbst durch die Erziehung der Kinder immer aufs Neue herzustellen half. Diese Erziehung brachte den künftigen Bürgern die dazu notwendigen Spielregeln und Requisiten nahe: Tischmanieren und Begrüßungsrituale, Anredeformen und Konversationsregeln, Konsumpraktiken und Kleiderordnungen. Mit einer auf diesem Wissen basierenden »guten Kinderstube« und mit gesicherten finanziellen Verhältnissen ausgestattet, war man für das erfolgreiche Mitwirken auf der bürgerlichen »Bühne« wohlgerüstet.
 
Vier Schauplätze waren es vor allem, an denen diese »bürgerliche Kultur« geprägt und gepflegt, gefördert und befördert wurde. Erstens stillten die zahlreichen Lesegesellschaften, Musik-, Kunst-, Natur-, Turn- und Nationalvereine, Schiller-, Dante- und Shakespearegesellschaften, Debattierklubs und Assoziationen, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts europaweit gleichsam wie Pilze aus dem Boden schossen, das offenbar starke Bedürfnis gegenseitigen Austausches. Hier suchte und fand das europäische Bürgertum Wegweiser zur Wirklichkeitsorientierung und Sinnstiftung. Zur gegenseitigen Verständigung bedurfte es eigener Regeln, Riten und Rituale und nicht zuletzt einer eigenen Sprache, die Belesenheit und Fachkenntnis bewies. Das ab und an eingestreute Klassikerzitat, das Jonglieren mit Spezialistenvokabular und das Wissen um die »Kunst des Ausdrucks« steckten den Rahmen Gleichgestellter und -gesinnter ab und schloss nicht Eingeweihte aus. Man war unter sich und wollte es auch bleiben.
 
Das Gleiche betraf die regelmäßigen Besuche von Kultstätten und Kulturinszenierungen. Auf dem sonntäglichen Spaziergang zu Nationaldenkmälern, im Konzert, Theater oder im Museum traf der Bürger auf Seinesgleichen, was durch Hutlüften, Handschlag und dezentes Kopfnicken gewürdigt wurde.
 
Als weitere Foren bürgerlicher Selbstverständigung dienten die vielfältigen Erzeugnisse der Presse. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erreichte sie nicht nur bislang ungeahnte Auflagenzahlen, sondern auch eine nie gekannte Gattungs- und Themenvielfalt. In der Flut von neu aus der Taufe gehobenen Zeitungen, Zeitschriften und Journalen wurden die kulturellen, religiösen und sozialen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, verkündet und zur Diskussion gestellt. Vor allem ein relativ neues Genre »fern aller raisonierenden Politik«, wie es im programmatischen Vorwort des Verlegers der beliebten »Gartenlaube« hieß, triumphierte europaweit mit Leserquoten in fünfstelliger Höhe: die Familienzeitschrift.
 
Deren Erfolgsgeschichte spiegelt die wachsende Bedeutung wider, die der bürgerlichen Familie in ihrer Schlüsselfunktion bei der Weitergabe bürgerlicher Kultur im Laufe des 19. Jahrhunderts zukam. Im Zuge des Ablösungsprozesses der Agrarwirtschaft durch den Industriekapitalismus begann zunächst wiederum im Bürgertum die räumliche und personelle Einheit von Erwerbsstätte und Familienhaushalt auseinander zu fallen. Damit entstand ein Schauplatz fern der Arbeitswelt, lediglich bevölkert von Eltern und Kindern, auf dem die Frauen des Bürgertums Regie führten. Während sich die männlichen Bürger tagtäglich aufmachten, um sich in der fordernden Arbeitswelt zu bewähren, kam es den Bürgerfrauen zu, die Familie als Erholungs- und Erziehungsstätte auszustatten und aufrechtzuerhalten. Hatten noch die Frauen und Töchter des alten Stadtbürgertums hinter dem Ladentisch gestanden, die Bücher geführt oder in der Werkstatt mit Hand angelegt, beschränkte sich das Betätigungsfeld der Bürgerfrau des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die familiären vier Wände. Hier oblag es ihr, ein bürgerliches Ambiente zu schaffen, den täglichen Haushalt in Gang zu halten, den Ehemann zu umsorgen und zu erbauen, die Autorität des Vaters zu festigen, den Kindern Wärme und Geborgenheit zu bieten, Konflikte zu schlichten und überhaupt bei Kummer und Krisen zur Stelle zu sein. Von Zeit zu Zeit mussten diese Mühen im Innern auch vor den kritischen Augen der Öffentlichkeit bestehen. Wenn die Familie zu kultur- oder naturverbundenen Ausflügen aufbrach, in die Sommerfrische fuhr oder Gäste bewirtete, galt es, mit geschmackvoll-gepflegter Kleidung, distinguiertem Umgangston, Klavier spielenden Töchtern und höflichen, als Matrosen gekleideten Söhnen den Nachweis zu erbringen, in der bürgerlichen Kultur bewandert zu sein.
 
Überdies befähigten ihre besonderen weiblichen Eigenschaften — so die Argumentation der Zeitgenossen — die Bürgerfrauen vor allem, die Erziehung der künftigen Bürgerinnen und Bürger, die zunehmend bedeutsamer wurde, zu übernehmen. Als Ende des 18. Jahrhunderts der Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau den Kindern eine »eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen« zuerkannte, stieß er mit dieser neuartigen Forderung vor allem im Bürgertum auf offene Ohren. Es entdeckte die Kindheit als Eigenwelt mit besonderen Rechten und Bedürfnissen: Kinderstuben wurden eingerichtet, Kinderkleider entworfen und neue, fantasiebereichernde Kinderbücher verfasst. Auch die Spielzeugindustrie florierte. Kirchenfeste wurden zu Kinderfesten, Weihnachtsmann und Osterhase als Gabenbringer und Erziehungshelfer hielten Einzug in die Bürgerhäuser. Mehr und mehr rankte sich das Familienleben um die Kinder, und die Verantwortung, ihre ersten Schritte ins Bürgerleben in die richtigen Bahnen zu lenken, wuchs. Die Mutterrolle erfuhr eine enorme Aufwertung. Gleichzeitig ging damit aber auch eine Einengung der weiblichen Aufgaben und Aussichten auf die »weibliche Berufung« einher, während die männliche Berufswelt immer mehr Perspektiven bot. Je konsequenter sich diese Arbeitsteilung durchsetzte, desto weiter drifteten die als männlich und weiblich definierten Sphären auseinander. Es war ein Polarisierungsprozess, der von zeitgenössischen Publizisten als »natürlich« beschworen und mit den jeweiligen »Geschlechtscharakteren« des aktiv-vernünftigen Mannes und der passiv-gefühlsbestimmten Frau erklärt wurde. Schon die kleinen Bürgerinnen bekamen dies zu spüren — durch frühen Ausschluss von den Spielen der Jungen, durch eine kürzere Schulzeit mit eingeschränktem Bildungskanon und durch lange verschlossene Ausbildungswege, die sich erst am Jahrhundertende langsam zu öffnen begannen.
 
 Neue Herausforderungen nach der Jahrhundertmitte
 
1851 schrieb der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl in seinem Bestseller »Die bürgerliche Gesellschaft«: »Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.« Dieser Bürgerstolz beseelte viele seiner Zeitgenossen. Um die Jahrhundertmitte schien der Zenit des Bürgertums noch längst nicht überschritten zu sein. Vieles von dem, was sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, setzte sich nun fort oder jetzt erst richtig durch. Nicht eher als um die Jahrhundertmitte erreichte die Industrialisierung in weiten Teilen Europas ihre Höchstgeschwindigkeit, die Zahl der Großstädte stieg in den jetzt aufholenden Ländern geradezu explosionsartig an und mit ihnen auch die dort gebotenen Standards hinsichtlich Technik, Hygiene, Handel, Verwaltung, Verkehr und Kultur. Auch in Deutschland und Italien erfüllten sich nun die Forderungen des liberal gesinnten Bürgertums nach Nationalstaaten. Der Ausbau der staatlichen Bürokratie schritt voran, das Bildungssystem expandierte weiter. Vor allem das Wirtschaftsbürgertum wuchs noch an Zahl und gelangte zu mehr Wohlstand und Einfluss — auch in Bereichen, in denen bis dahin ein vorwiegend gebildetes Bürgertum mit seinem biedermeierlich-schlichten Lebensstil maßgebend gewirkt hatte. Doch auch dieses verlor nicht an Stärke, sondern fächerte sich im Gefolge schnell vordringender und effektiver Professionalisierung weiter nach Berufsgruppen auf. Das Bürgertum umfasste zwar nach wie vor nur eine Minderheit der Bevölkerung, zwischen fünf und zwölf Prozent. Aber seine Angehörigen und seine Institutionen, sein Geist und seine Kultur durchwirkten viele gesellschaftliche Bereiche, fanden Verbreitung in der Wirtschaft und der Erziehung, in den Wissenschaften und der Kunst, in den Großstädten, am Arbeitsplatz und nicht zuletzt im Familienleben.
 
Gleichzeitig sah sich das Bürgertum neuen Herausforderungen gegenüber. Schon mit der Radikalisierung der Französischen Revolution in den 1790er-Jahren, mit den Ansätzen des Klassenkampfes in Großbritannien im Anschluss an die Napoleonischen Kriege, mit den Aufständen und Streiks französischer Handwerker und Arbeiter in Paris und Lyon in den 1830er-Jahren und um 1848, mit der Revolte der schlesischen Weber 1844 und den ersten sozialistischen Regungen in den »hungrigen 1840er-Jahren« war es mit Angehörigen der Unterschichten und einer entstehenden Arbeiterbewegung konfrontiert worden. Ausschlaggebend jedoch war für viele die Erfahrung der Revolutionen von 1848 mit ihren Massenaktionen, die sich aus bürgerlicher Anleitung schnell befreiten und die bürgerliche Welt selbst zu bedrohen schienen. Mit der schrittweisen Demokratisierung des Wahlrechts für Männer, die in Frankreich als Folge der Ereignisse von 1848, in Deutschland im Zuge der Gründung des Nationalstaates 1870/71, in Italien im Laufe der 1880er-Jahre und in Großbritannien und anderen Teilen Europas eher schleppend erfolgte, betraten die nicht zum Bürgertum zählenden »kleinen Leuten« die politische Arena. Der Aufschwung der Arbeiterbewegungen und ihre Aktionen schürten weit verbreitete Bürgerängste. Die Pariser Kommune von 1871 war ein Fanal, das nirgendwo in Europa unbemerkt verhallte. Davon aufgeschreckt, wechselte das Bürgertum die Fronten. Die dem bürgerlichen Programm eigene Forderung nach formaler Gleichheit aller geriet gänzlich zur Farce, als die Arbeiterklasse soziale Gleichheit forderte. Hatte vorher die klare Abgrenzung von den alten Eliten die bürgerliche Kultur, Wirtschaftsweise und Politik geprägt, wurde sie nun überlagert von der Abschottung gegenüber den unteren Schichten.
 
Während die letzten ständischen Überbleibsel der Stadtbürgergemeinden endgültig zerfielen, traten die Trennlinien zwischen dem besser gestellten und dem niederen Bürgertum, das heißt zwischen Kaufleuten, Industriellen, Professoren und höheren Beamten auf der einen Seite und den Handwerkern, Ladenbesitzern, Gastwirten, kleinen Beamten und jetzt zunehmend auch Angestellten auf der anderen Seite schärfer hevor. Als Kleinbürgertum fielen sie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Konzept des Bürgertums heraus, das sich nunmehr auf das gut situierte Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum verengte.
 
Auch am oberen Rand des Bürgertums wandelte sich die Konstellation. Sowohl im edwardianischen Großbritannien, im wilhelminischen Deutschland als auch im vorrevolutionären Russland lässt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Tendenz großbürgerlicher Kreise beobachten, sich dem Adel anzunähern. Diese Spuren einer Aristokratisierung zeigten sich nicht nur in einem politischen Schulterschluss mit dem Adel, sondern auch in der Nachahmung und Annahme des adligen Lebensstils. Das Liebäugeln mit adligen Schwiegersöhnen oder -töchtern und ein alles in allem auf äußere Repräsentation statt auf innere Werte schauender Habitus galten als Zeichen einer schrittweisen Aufgabe bürgerlicher Ideale zugunsten aristokratischer Weltanschauungen und Daseinsformen. Hinzu kam, dass auch der Adel sich der bürgerlichen Welt zuneigte, Bildung akzeptierte und auch anstrebte. Angesichts der »Bedrohung von unten« zählten für die Spitzen der Gesellschaft offenbar gemeinsame Interessen und Erfahrungen mehr als alte Vorstellungen, die sie vordem entzweit hatten.
 
Eine andere, das Bürgertum ideologisch zusammenhaltende Klammer, der Nationalismus, blieb stark, doch nahm er nun zunehmend illiberale, imperialistische und manchmal rassistische Züge an. In dieser Atmosphäre wurde — vor allem von Intellektuellen, Künstlern, Bürgertöchtern und Schriftstellern — harte Kritik formuliert, die das Philisterhafte, Behäbige und Scheinheilige der bürgerlichen Gesellschaft ans Tageslicht brachte und anprangerte. Die Wortführer dieser Kritik begannen, die bürgerlichen Ansprüche an der Wirklichkeit zu messen und reale Ungleichheiten hinter dem schön tönenden Universalismus zu enthüllen. Zum Fin de siècle und vor dem Ersten Weltkrieg sah sich die Bürgerwelt nicht nur »von unten« bedrängt und bedroht, sondern auch aus den eigenen Reihen heraus infrage gestellt.
 
Als Kurt Tucholsky 1920 schrieb: »Das bürgerliche Zeitalter ist dahin, was jetzt kommt, weiß niemand«, drückte er eine weit verbreitete Stimmung aus. Doch viele Elemente der bürgerlichen Kultur scheinen weitaus langlebiger als seine Begründer. Selbst in ausgesprochen antibürgerlichen Gesellschaften, so etwa in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, schienen weite Teile eines Bürgertums oder zumindest ihre Werte und Vorstellungen überwintert zu haben. Am Ende des 20. Jahrhunderts erinnern alte und neue Ungleichheiten daran, dass der Weg in die bürgerliche Gesellschaft, wie sie vom Bürgertum erdacht und erstrebt wurde, noch weit ist.
 
Dr. Gunilla-Friederike Budde
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Adel: Seine Rolle in Europa im Wandel der Jahrhunderte
 
Literatur:
 
Budde, Gunilla-Friederike: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914. Göttingen 1994.
 
Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, herausgegeben von Ute Frevert. Göttingen 1988.
 
Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, herausgegeben von Reinhart Koselleck und Klaus Schreiner. Stuttgart 1994.
 
Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, herausgegeben von Jürgen Kocka. 3 Bände. Gekürzte Neuausgabe Göttingen 1995.
 Gall, Lothar: Bürgertum in Deutschland. Taschenbuchausgabe München 1996.
 Nipperdey, Thomas: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Berlin 1988.


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