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EUROPA: RIVALITÄTEN, WETTRÜSTEN, KRISENHERDE IM AUSGEHENDEN 19. JAHRHUNDERT

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Europa: Rivalitäten, Wettrüsten, Krisenherde im ausgehenden 19. Jahrhundert
 
Als sich das 19. Jahrhundert dem Ende zuneigte, hatte sich das Antlitz Europas beträchtlich verändert. Auf dem Wiener Kongress 1814/15 hatte die europäische Staatenwelt die Politik des Gleichgewichts wiederhergestellt. Die folgenden Jahre standen im Zeichen der Restauration — und schließlich der Revolution. Doch erst der Krimkrieg (1853/54—56) setzte eine große internationale Zäsur. Er führte die Brüchigkeit der europäischen Mächtekonstellation vor Augen und bedeutete das Ende des Prinzips der kollektiven Verantwortung. Nationale Bewegungen gewannen an Ausdehnung und Gewicht, von 1866 bis 1871 wurde Europa gleichsam neu organisiert. Die folgende, verstärkt einsetzende imperiale Expansion lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen vom alten Kontinent nach Übersee. Viele Staaten, unter ihnen Großbritannien und Russland, erlitten aber auch vernichtende Niederlagen, die ihrer Macht Grenzen setzten und dazu führten, dass sie den Blick zurück nach Europa richteten.Der Scheitelpunkt der imperialen Konflikte in Übersee war mit der Jahrhundertwende überschritten, Krisen in dieser Region schlugen jetzt auf Europa zurück, das Gleichgewicht der Mächte ging in eine stabile Krise über, die mit wechselnder Intensität bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs anhielt.
 
 Deutschlands Anspruch auf »Weltstellung«
 
Um die Jahrhundertwende erreichte nicht nur der Imperialismus seinen Höhepunkt; es kam auch zur Revolutionierung der europäischen Diplomatie und zur Spaltung des alten Kontinents in zwei große Koalitionen. Die Wurzeln dieser Entwicklung lagen in Deutschland. Als 1890 der Reichsgründer Otto von Bismarck entlassen wurde, erwiesen sich seine Nachfolger als unfähig und unwillig, seiner Diplomatie zu folgen. Ein Grundpfeiler bismarckscher Politik — der Rückversicherungsvertrag 1887 mit Russland — wurde 1890 nicht erneuert, ein Äquivalent nicht geschaffen. Das wichtigste Argument gegen eine Verlängerung lautete, dass Bismarcks Strategie der peripheren Ablenkung nicht länger Aussicht auf Erfolg habe. Außerdem schienen die alten Vertragsverpflichtungen unvereinbar mit der neuen Politik gegenüber Österreich-Ungarn. Hinzu kam, dass Anzeichen einer deutsch-britischen Kooperation am Horizont sichtbar wurden, die ebenfalls zum Scheitern verurteilt schien, wenn die antirussisch eingestellte britische Regierung von Details des Rückversicherungsvertrags Kenntnis erhielt. Persönliche Motive taten ein Übriges, die deutsche Außenpolitik auf ein neues Fundament zu stellen. Bismarcks Nachfolger waren darauf bedacht, ihre Selbstständigkeit zu beweisen. Dies galt vor allem für Kaiser Wilhelm II. und den Diplomaten Friedrich von Holstein, die beide davon überzeugt waren, dass sie schon zu lange im Wartesaal für Profilierung verharrten. Die Entscheidung in Berlin nötigte Sankt Petersburg, einen anderen Bündnispartner zu suchen. Am 4. Januar 1894 wurden Russland und Frankreich Verbündete. Die Folge: Die deutschen Militärs konnten nun einen Zweifrontenkrieg nicht mehr ausschließen.
 
Deutsch-britische Kontroversen
 
Seit dem Beginn deutscher »Weltpolitik«, die bis heute noch keine befriedigende Erklärung erfahren hat, waren die Beziehungen zwischen Berlin und London durch ein Schwanken zwischen zwei Extremen gekennzeichnet. Auf der einen Seite trug das deutsche Flottenprogramm dazu bei, das Verhältnis zusehends zu trüben, auf der anderen Seite trieb deutsche wie britische Politiker die Frage um, wie ein Bündnis, zumindest aber eine Annäherung, realisiert werden könnte. Den Zeitgenossen blieb die Widersprüchlichkeit dieser Tendenzen keineswegs verborgen. Die Ecken und Kanten des wilhelminischen Deutschland fügten sich nicht in die gewachsene Weltordnung der Pax Britannica und ihrer Architekten ein, die eine zunehmende Überbürdung beklagten. Um die Jahrhundertwende kam das Grundmuster außenpolitischen Konfliktverhaltens des britischen Empire deutlich zum Tragen: Friedenswahrung und Risikoscheu wurden groß geschrieben, was allerdings nicht gleichbedeutend war mit Frieden um jeden Preis. Der Transvaalkonflikt (1899—1902) warf ein grelles Licht auf die Grenzen britischer Toleranz. In dieser Auseinandersetzung für die Buren Partei zu ergreifen, wie es Wilhelm II. mit der berühmten Depesche an den Präsidenten von Transvaal Paulus Krüger getan hatte, wurde in London nicht als Kavaliersdelikt empfunden. Das Deutsche Reich, so argwöhnte mancher, mochte im Stillen den Gedanken an eine Intervention gefasst haben. Rivalität zeigte sich nicht nur in Afrika. Auch der Bau der Bagdadbahn bot zu deutsch-britischen Kontroversen Anlass, mehr und mehr gewannen die Briten den Eindruck, dass Deutschland zu einem ernsthaften Konkurrenten heranwuchs. Die britische Sympathie, die das Reich noch bei seiner Gründung 1871 begleitet hatte, wich mehr und mehr dem Argwohn und der Unsicherheit über die Ziele, die Deutschland verfolgte. Doch vermutlich, so die vorherrschende Ansicht in London, wollte die stärkste Macht Kontinentaleuropas das Jahrhundert in die Schranken fordern. Dem entsprachen die öffentlichen Äußerungen deutscher Politiker, dem entsprach die Diktion, die sich der Kaiser zu Eigen machte, dem entsprach schließlich der Bau einer Flotte, für die Alfred von Tirpitz, Staatssekretär im Reichsmarineamt, verantwortlich zeichnete.
 
Die Rechtfertigung deutscher »Weltpolitik«
 
Ich bin auch heute der Überzeugung,« so resümierte Bernhard Heinrich Martin Fürst von Bülow, früherer Staatssekretär und Reichskanzler, gegenüber Tirpitz nach dem Ersten Weltkrieg, »die uns beide erfüllte, als wir vor 27 Jahren gleichzeitig Staatssekretäre wurden,. .. dass unser Volk nach seiner Tüchtigkeit, seiner Kultur (im besten Sinne des Wortes) und seiner Vergangenheit ein Recht auf die Stellung hätte, die ich damals den Platz an der Sonne nannte, das heißt das Recht auf Gleichberechtigung mit anderen großen Nationen.« Am 6. Dezember 1897 hatte Bülow vor dem Reichstag die Interessen Deutschlands in China unterstrichen und einen Ausdruck geprägt, der zum geflügelten Wort wurde und im Kern das politische Programm der Zukunft vorstellte: den »Platz an der Sonne«. Bülows Rede stellte eine Zäsur in der klassischen preußisch-deutschen Außenpolitik dar. Großmachtpolitik war in den Augen der Zeitgenossen nur noch denkbar, indem sich das Reich außerhalb Europas engagierte. Der Staatssekretär verlieh also nur einer weit verbreiteten Meinung Ausdruck. Die Einigung Deutschlands, so war bereits in der Freiburger Antrittsvorlesung des Soziologen Max Weber 1895 zu vernehmen, sei ein Jugendstreich, »den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtposition sein sollte.«
 
Die »Weltpolitik« war also längst Gegenstand öffentlicher Diskussion, als Bülow seine Jungfernrede hielt, allerdings ohne diesen Begriff zu verwenden. Auch Wilhelm II. verlieh anlässlich der Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1896 nur einer allgemeinen Überzeugung Ausdruck, als er das Attribut »Weltreich« benutzte, auf die globale deutsche Betriebsamkeit verwies, die internationale wirtschaftliche Verflechtung hervorhob und schließlich dazu aufforderte, dieses »größere Deutsche Reich« an das »heimische« eng anzuschließen. Mit dieser Forderung entsprach er fast der Diktion und dem Inhalt alldeutscher Blätter, die seit Jahren eine »Weltstellung« postulierten.
 
 Entente cordiale, britisch-französisches Einvernehmen
 
Opposition gegen die deutsche »Weltpolitik« kennzeichnete viele europäische Staaten, obwohl sie selbst Expansion auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Ein Dorn in britischen Augen war vor allem der deutsche Entschluss zum Aufbau einer Flotte. In erster Linie sollte sie als Druckmittel gegen Großbritannien dienen und die »Bündnisfähigkeit« des Reichs unter Beweis stellen. Sodann — nicht weniger wichtig — war sie eine »Risikoflotte«. Im Falle einer Kollision mit der stärksten Seemacht sollte die Existenz der feindlichen Flotte infrage gestellt werden können. London blieben diese Planungen natürlich nicht verborgen. Die spätere Konzentration der deutschen Flotte in der Nordsee ließ darüber hinaus nur den Schluss zu, dass die Geschütze gegen Großbritannien gerichtet waren. Diese Wahrnehmung war weit verbreitet und keineswegs auf Politiker beschränkt, wie der Roman von Erskine Childers »Das Rätsel der Sandbank« von 1903 zeigte. Natürlich ließ sich den Deutschen nur schwer die Berechtigung zum Bau einer eigenen Flotte absprechen. Während in London die Skepsis zunahm, machte sich in Berlin, vor allem bei von Holstein, die Überzeugung breit, dass Großbritannien dringender denn je Verbündete gegen Russland brauchte — und wer kam da eher infrage als die Macht mit dem größten Heer Europas! Auszuhandeln, so schien es, war lediglich der Preis für ein Bündnis, und damit ließ sich Berlin mehrere Jahre Zeit, von 1899 bis 1902, als London tatsächlich — wenn auch nur vage — die Möglichkeit eines deutsch-britischen Bündnisses anzudeuten schien.
 
Von der Faschodakrise zur Entente cordiale
 
Während man im Deutschen Reich der Illusion huldigte, dass Großbritannien ohne Deutschland in einen ausweglosen Konflikt geraten würde, arbeiteten britische Politiker fieberhaft an Alternativen zu einem Bündnis mit Berlin. Obwohl die Faschodakrise 1898/99 dem Verhältnis zwischen Paris und London eine gewaltige Narbe zugefügt hatte, geschah, was kaum ein Zeitgenosse prognostiziert hätte: Franzosen und Briten setzten sich an einen Tisch und beschlossen, den früheren Gegensatz für überholt zu erklären. Beide Länder fürchteten aus verschiedenen Gründen Russlands Verwicklungen im Fernen Osten, beide Staaten nahmen Anstoß an der schwer einzuschätzenden deutschen »Weltpolitik«. Doch die französischen Befürworter einer Allianz mit Großbritannien, vor allem Außenminister Théophile Delcassé, führten ein weiteres Argument ins Feld: Elsass und Lothringen mochten im grauen Alltag nicht immer in den Schlagzeilen stehen, doch ihr Wiedererwerb blieb das Ziel französischer Politik. In einer Reihe von Geheimerklärungen gelang es Frankreich auch, Italien zur Passivität zu bewegen, sollte es zum Krieg zwischen Paris und Berlin kommen.
 
Die Differenzen zwischen Großbritannien und Frankreich wurden bis 1904 ausgeräumt, sodass noch im selben Jahr ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet werden konnte. Ursprünglich zielte dieses »herzliche Einvernehmen«, die Entente cordiale, lediglich darauf ab, koloniale Differenzen zwischen beiden Mächten aus dem Weg zu räumen, doch der Vertrag enthielt unausgesprochene Folgen, die den Unterzeichnern wohl selbst noch nicht bewusst waren, als die Tinte trocknete. Er beendete die Konfrontation in Siam — das heutige Thailand — und Neufundland und zog einen Schlussstrich unter westafrikanische Grenzkonflikte. Im Mittelpunkt standen Ägypten und Marokko, das der französischen Einflusssphäre zugeschlagen wurde, während die britische Herrschaft am Nil von Frankreich endgültig anerkannt wurde. Die tatsächliche Brisanz dieser Einigung, insbesondere für das Deutsche Reich, zeigte sich erst in den folgenden Jahren. Denn dieses koloniale Abkommen gab gewissermaßen den Startschuss für eine weit reichende, auch Europa einschließende Zusammenarbeit zwischen beiden Nationen, die man in der Wilhelmstraße ebenso ausgeschlossen hatte wie eine Annäherung zwischen Sankt Petersburg und Paris. War es ursprünglich noch ein Charakteristikum kolonialer und imperialistischer Expansion, dass die Großmächte in Übersee einander mit Drohgebärden gegenüberstanden und der Schatten dieser Konfrontation auch auf Europa fiel, so war nach der Jahrhundertwende das Gegenteil zu beobachten: Die Peripherie hatte den Kontinent wieder eingeholt, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen! Indirekt trug sie jetzt dazu bei, Gegensätze, zum Beispiel den britisch-französischen, zu mildern und — die Kehrseite — den Weg zu einem festgefügten Dualismus in Europa zu ebnen. Die wichtigste Konsequenz des britisch-französischen Bündnisses bestand alles in allem darin, dass es Perspektiven für Kooperationen in anderen europäischen Fragen eröffnete. In Berlin schlug die Nachricht von dem Bündnis wie eine Bombe ein. Aber auch die deutsche Flottenrüstung hatte dazu beigetragen, die »Weltpolitik« wieder zur Europapolitik zu machen.
 
Nach der Verkündung deutscher »Weltpolitik« zeigte sich Wilhelm II. an überseeischem Besitz wenig interessiert. In seinem unruhigen Kopf nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ganz anderer Plan Gestalt an, der engstens mit der Niederlage Russlands gegen Japan in der Seeschlacht von Tsushima am 27. Mai 1905 verknüpft war. Das Ergebnis des Russisch-Japanischen Kriegs war für die Großmächte von einschneidender Bedeutung: Japan avancierte nach seinem Sieg zur Vormacht im Fernen Osten, während Russland sich nach der vernichtenden Niederlage zu einem außenpolitischen Kurswechsel durchrang, dessen Kompassnadel wieder auf Europa, ganz besonders auf Südosteuropa, gerichtet war. Damit schien ein Konflikt mit Österreich-Ungarn unvermeidlich, das machtpolitische Ambitionen vor der eigenen Haustür demonstrierte. Noch während des Russisch-Japanischen Kriegs war Berlin bemüht, das Zarenreich vom Nutzen eines Bündnisses mit dem Deutschen Reich und der Brüchigkeit der Allianz mit Frankreich zu überzeugen. Hinter dem deutschen Ansinnen stand sogar die Hoffnung, auch den Widerstand der französischen Diplomaten gegen ein Zusammengehen mit dem Reich zu brechen und die mögliche Zerstörung der deutschen Flotte durch eine Kontinentalliga zu verhindern. Doch die Politiker griffen ins Leere, kein Staat war zur Kooperation bereit.
 
Die 1. Marokkokrise
 
Im März 1905, also ein Jahr nach dem Abschluss der Entente cordiale, wurde der Startschuss für eine Gegenoffensive gegeben, die Kaiser Wilhelm II. nach Tanger führte. Nach seiner Landung am 31. März unterstrich er die Unabhängigkeit des Sultans von Marokko. Zugleich forderte die deutsche Regierung die Aufhebung der Bestimmungen, die im Rahmen des »herzlichen Einvernehmens« bezüglich Marokkos festgelegt worden waren. Ziel der Aktion war, das britisch-französische Abkommen zu sprengen und den Vertragspartnern die Wertlosigkeit des Bündnisses vor Augen zu führen. Hinzu trat die Überlegung, auf diese Weise auch der französisch-russischen Allianz die Spitze zu nehmen. Diese von Berlin provozierte 1. Marokkokrise verfolgte also nicht den Zweck, deutsche Ansprüche in Übersee einzuklagen, sondern zielte darauf ab, die Position des Reiches in Europa wieder zu festigen.
 
Das Ergebnis war allerdings ruinös. Zwar musste der französische Außenminister sein Amt zur Verfügung stellen, doch war die von Berlin geforderte internationale Konferenz von Algeciras 1906 alles andere als ein Erfolg. Zum einen war der Widerstandswille der französischen Regierung nach wie vor ungebrochen, zum anderen waren die in London zur Macht gekommenen Liberalen entschlossen, dem Deutschen Reich Paroli zu bieten. Schon lange war der britische Außenminister Sir Edward Grey davon überzeugt, dass Berlin nichts anderes als die Vorherrschaft in Europa anstrebe. Aus diesen Tatsachen erklärte sich der übereinstimmende Entschluss der Franzosen und Briten, in Algeciras den deutschen Diplomaten entgegenzutreten. Das Resultat: Ein sich immer fester fügendes gegnerisches Bündnissystem entstand, das sich im Rahmen der Entente cordiale allenfalls in Konturen abgezeichnet hatte. In Europa gab es jetzt nur noch eine Macht, auf die das Reich zählen konnte: Österreich-Ungarn. Allmählich wurde offensichtlich, dass Bülows »Weltpolitik« — mochte sie nun einem Konzept folgen oder lediglich ein Bekenntnis darstellen — gescheitert war. Doch der »weltpolitische« Grundakkord, einmal angeschlagen, ließ sich wegen der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres unterdrücken und begleitete die Außenpolitik weiterhin, gewissermaßen als Hintergrund der Konflikte, die geographisch gesehen sich immer mehr dem Zentrum Europas näherten.
 
 Internationale Krisenherde
 
Der Sommer 1908 wurde Zeuge einer Krise, die ihren Ursprung in einer türkischen Revolution hatte. Die »Jungtürken« klagten Reformen ein und erweckten in Österreich-Ungarn die Befürchtung, dass die neue türkische Regierung Ansprüche auf Bosnien und die Herzegowina erheben würde, die Wien seit 1878 besetzt hatte. Entgegen den Bestimmungen des Berliner Kongresses entschied man sich in der österreichischen Metropole für eine direkte Eingliederung in das eigene Staatsgebiet — und löste prompt den Protest der Serben aus. Und wie verhielt sich Berlin gegenüber dem Verbündeten? Bülow drängte zur Bündnistreue. Europa wurde damit unmissverständlich demonstriert, dass Berlin den engen Schulterschluss mit Wien suchte, um sich nicht auch des letzten Verbündeten beraubt zu sehen. Natürlich löste die Krise Unbehagen aus. War — so die Frage — das Deutsche Reich wirklich mit allen Kräften entschlossen, einer friedlichen Entwicklung den Weg zu ebnen? Wieder bestand ein Ergebnis der Krise darin, dass die Mitglieder der Tripelentente — Großbritannien, Frankreich, Russland — enger aneinander rückten. Eine weitere Folge war, dass die österreichische Annexion Bosniens und der Herzegowina als Katalysator weiterer kriegerischer Auseinandersetzungen auf dem Balkan wirkte. Das Jahr 1908 war also von drei gefährlichen Tendenzen gekennzeichnet: dem Drang zu Bündnissen, der allgemeinen Rüstungssteigerung sowie einer Hörigkeit gegenüber militärischen Beratern. Ob die politischen Entscheidungsträger in Europa die Gefährlichkeit dieser Dreiheit bis in alle Verästelungen wahrnahmen oder bewusst die Augen vor ihr verschlossen, kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden.
 
Der »Panthersprung« nach Agadir
 
Hurrah! Eine Tat«, so konnte man am Morgen des 2. Juli 1911 in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung lesen. Dieser Aufschrei der Erleichterung war durch eine Aktion ausgelöst worden, die Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Waechter inszeniert hatte und die den Diplomaten ein Rätsel aufgab. Die Außen- bzw. »Weltpolitik« Bülows hatte schon 1907 mit dem britisch-russischen Abkommen zur Abgrenzung der Interessensphären in Innerasien ihr Ende gefunden und hinterließ nichts, was zu Hoffnungen auf den Status einer allseits anerkannten Weltmacht oder auf einen Gewinn bringenden Ausgleich mit anderen Mächten berechtigte. Die Folge war zwar kein erklärter Verzicht auf »Weltpolitik«, wohl aber eine Beschränkung in der Möglichkeit der Mittel. Fortan wurden die gegnerischen Allianzen einem Härtetest unterzogen, denn garantiert war ja keineswegs, dass der einmal vollzogene Schulterschluss allen Belastungen standhalten würde. Im Frühjahr 1911 hatte die französische Regierung anlässlich von Unruhen Truppen nach Fès in Marokko gesandt, um Ausländer zu schützen. Diese Maßnahme war durch das Abkommen von Algeciras jedoch nicht gedeckt. In dieser Situation sah Kiderlen-Waechter eine Chance. Trotz wirtschaftlicher Interessen neigte er dazu, das Terrain aufzugeben, aber: nicht ohne Kompensationen, beispielsweise den französischen Teil des Kongo. Der Kaiser stimmte der Entsendung des Kanonenboots »Panther« nach Agadir zu. Und das Ergebnis dieser Machtdemonstration: Frankreich trat lediglich einen Teil seiner äquatorialafrikanischen Gebiete, nun Neukamerun genannt, an das Reich ab. — Wieder hatten sich die deutschen Provokationen nicht ausgezahlt.
 
Natürlich verschlechterte sich weiterhin das Verhältnis zwischen dem Reich und den Ententemächten, die Rüstungsspirale wurde allenthalben angezogen, und zunehmend kamen Zweifel auf, ob die eskalierenden Konflikte in eine friedliche Lösung münden würden. Denn im Gefolge der 2. Marokkokrise hatte Italien »prophylaktisch« Tripolitanien besetzt, wodurch es zu einem Krieg mit der Türkei gekommen war. Die Balkanstaaten nutzten die Gunst der Stunde, die Türkei um ihre europäischen Besitzungen zu erleichtern. Nichts deutete darauf hin, dass pazifistische Strömungen oder auf Ausgleich bedachte Kräfte die Oberhand gewinnen würden. Viel zu viele Kräfte zogen in unterschiedliche Richtungen. Parteien und Verbände schienen sich in nationalistischen Tönen übertrumpfen zu wollen. Der politische Manövrierraum der Regierungen — vor allem der deutschen — wurde enger, enger wurde aber auch die militärische Zusammenarbeit zwischen den Ententemächten: Großbritannien und Frankreich schlossen eine Marinekonvention.
 
Der Krisenherd Balkan
 
Der Nationalismus war keineswegs ein Phänomen, das lediglich die Haltung der Großmächte charakterisierte. Er grassierte auch an der europäischen Peripherie, insbesondere auf dem Balkan. Freilich war die Entwicklung der Balkanstaaten zu einem erheblichen Teil abhängig von dem Schicksal eines Staats, an dem die europäischen Metropolen in der Vergangenheit größtes Interesse gezeigt hatten, dem Osmanischen Reich. Erst das Auseinanderfallen dieses Herrschaftssystems bot die Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung der Balkanstaaten. Aber genau dieser Prozess war den europäischen Regierungen alles andere als willkommen, da die Krisenherde immer näher an das europäische Zentrum rückten.
 
Da Russland Serbien und Bulgarien gewissermaßen als Nothelfer bestellt hatte und der Balkan der russischen Interessensphäre zugeschlagen werden sollte, zeichnete sich ein Großmachtkonflikt mit Österreich-Ungarn ab, das in dem Zweibund mit Berlin die einzige Absicherung für einen Präventivschlag gegen Russlands Satelliten sah. Neben dem Reich war allerdings auch Großbritannien an einer friedlichen Lösung interessiert. Fernab der Querelen über Flottenrüstung und fernab der Handelsrivalität schien sich die Perspektive einer deutschen Zusammenarbeit mit Großbritannien zu eröffnen, und dies auf einem Gebiet, das durch die Konflikte der Vergangenheit noch nicht belastet war. Dieses Mal hatte die Strategie Erfolg.
 
Seit dem 17. Dezember 1912 tagte die Londoner Botschafterkonferenz, der es tatsächlich gelang, den Konflikt, der seit Oktober zwischen dem Balkanbund (Montenegro, Bulgarien, Serbien, Griechenland) und der Türkei auch militärisch ausgetragen wurde, noch einmal beizulegen. Der Erfolg war nicht von langer Dauer: Im Juli 1913 brach ein zweiter Balkankrieg aus, in dem Serbien gegenüber dem österreichischen Satellitenstaat Bulgarien die Oberhand behielt und als Gewinner aus dem Konflikt hervortrat. Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg drängte den österreichischen Außenminister Leopold Graf Berchtold zur Mäßigung.
 
Doch als am 28. Juni 1914 Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, Neffe des Kaisers und Thronfolger, in Sarajevo von dem Nationalisten Gavrilo Prinčip ermordet wurde, agierten viele Willenszentren gegen- und nebeneinander. Zum Zeitpunkt der wechselseitigen Kriegserklärungen waren die Massen der Überzeugung, dass sie einen Verteidigungskrieg führen würden. Dies war der Glaube in Großbritannien wie in Frankreich, im Deutschen Reich wie in Russland. Europa hatte die Nerven verloren, die seit Jahren bestehende Kriegsbereitschaft ein auslösendes Moment gefunden. Ihre Ursachen waren vielfältig. Ohne Zweifel zählte auf fast allen Seiten Prestigesucht dazu, aber eben auch eine grundsätzliche Konfliktbereitschaft, die seit den Tagen von Agadir beständig zugenommen hatte. Die Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten — beispielsweise zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien — hatten eine lange Geschichte und erzeugten eine Eigendynamik, die in dem permanenten Spannungszustand vor Kriegsausbruch erst recht zum Tragen kam. Hinzu gesellte sich die Tatsache, dass die europäischen Kabinette bereit waren, sich der Automatik militärischer Planungen hinzugeben und sich damit selbst der Handlungsfreiheit beraubten. All diese Faktoren trafen im Juli 1914 zusammen und bieten einen Erklärungsansatz für die Kriegsbereitschaft, die allenthalben herrschte und Europa in eine Orgie der Gewalt stürzte.
 
Dr. Michael Fröhlich
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Weltkrieg, Erster: Julikrise und Kriegsausbruch 1914
 
Literatur:
 
Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung, herausgegeben von Jost Dülffer und Karl Holl. Göttingen 1986.
 
Handbuch der Verträge 1871-1964. Verträge und andere Dokumente aus der Geschichte der internationalen Beziehungen, herausgegeben von Helmuth Stoecker u. a. Berlin-Ost 1968.
 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 2: Machtstaat vor der Demokratie. Sonderausgabe München 1998.
 Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Taschenbuchausgabe Berlin u. a. 1998.


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