Existenzphilosophie: Faktizität, Transzendenz und Freiheit
Von den Zwanzigerjahren bis in die Sechzigerjahre war die Existenzphilosophie die vorherrschende philosophische Strömung in Europa. Ihre Hauptvertreter sind Karl Jaspers, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Gemeinsam ist den unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen die Besinnung auf die menschliche Existenz, die schon Søren Kierkegaard zum Thema der Philosophie erhoben hatte, sowie die Ablehnung der Wesensphilosophie, die vor allem mit dem Rationalismus, aber auch mit dem Positivismus verbunden war.
In der Wesensphilosophie bezeichnet der Begriff der Existenz die Wirklichkeit eines Dinges gegenüber seiner bloßen Möglichkeit; der Begriff der Essenz oder des Wesens beinhaltet seine notwendigen Eigenschaften. Das Wesen eines Dinges liegt ihr zufolge unveränderlich fest und geht seiner Wirklichkeit voraus; erst das wirkliche Ding sei Veränderungen unterworfen. Vorausgesetzt ist dabei eine fest gefügte, unwandelbare Ordnung, in der alle Dinge ihren bestimmten Platz haben und in der ihr Wesen begründet liegt.Dieser Ordo-Gedanke ist in der traditionellen Metaphysik meist verknüpft mit der Idee Gottes als Schöpfer und Mittelpunkt der Ordnung. Auch den Menschen sieht die Wesensphilosophie insofern wie ein Ding, als sein Wesen ihm vorgegeben sei. Allerdings sei er dazu bestimmt, sein Wesen zu erkennen und es nach den allgemein gültigen Werten zu verwirklichen, also sich in die ewige Ordnung zu fügen. Die skizzierte Position bestimmte weitgehend die abendländische Metaphysik. Allerdings verlor in der Neuzeit der Ordo-Gedanke an Bedeutung und in der Philosophie rückte das durch Selbstbewusstsein gekennzeichnete Subjekt ins Zentrum.
In der Existenzphilosophie bezeichnet der Begriff der Existenz nicht das Vorhandensein der Dinge, sondern die Seinsweise des Menschen. Freilich versteht die Existenzphilosophie auch das Menschsein grundlegend anders: Der Mensch verwirkliche nicht sein Wesen in einer vorgegebenen, ontologisch determinierten Ordnung, sondern vollziehe seine Freiheit in einer geschichtlich sich wandelnden Welt im dialogischen Prozess. Geschichtlichkeit und Endlichkeit werden daher in der Existenzphilosophie als wesentlich für den Menschen gesehen und die Wirklichkeit des Einzelnen wird als höchst bedeutsam gewertet.
Karl Jaspers hob die Existenz des Menschen ausdrücklich von seinem bloßen Dasein ab: Das Dasein ist dem Menschen unmittelbar gegeben; es bedeutet seine leiblich-seelische Wirklichkeit, in der der Einzelne sich als bedingt durch seine Umwelt erlebt. Die Existenz ist dagegen wesentlich durch Freiheit gekennzeichnet; sie bedeutet seine ursprüngliche Seinsmöglichkeit, zu der sich der Einzelne durch Wahl und Entscheidung eigens erheben muss, indem er sich als unbedingt erfasst. Allerdings wird der Mensch seiner Existenz oft erst in einer »Grenzsituation« gewahr. Grenzsituationen sind Leid, Kampf, Schuld und Tod. In ihnen erfährt der Einzelne seine Geschichtlichkeit und Endlichkeit; er wird zu einer Entscheidung gedrängt oder sein ganzes Dasein wird gefährdet. Eine Grenzsituation besteht aber auch schon darin, dass der Einzelne sich immer in einer konkreten Situation befindet, durch die er bestimmt ist. Die »Erhellung« der Existenz betrachtete Jaspers als eine wesentliche Aufgabe der Philosophie. Eine rein theoretische Erkenntnis der Existenz hielt er für unmöglich: Die Existenz ist nicht objektivierbar; sie ist das »Umgreifende«, das wir selbst ursprünglich sind, indem wir unbedingt handeln. Existenz ist nur als Freiheit wirklich. In seiner Existenzphilosophie ging es Jaspers darum, die Existenz zu erwecken: Sie enthält den Appell zur Existenz.
Aber »Existenz ist nicht für sich allein und nicht alles; denn sie ist nur, wenn sie bezogen ist auf andere Existenz und auf Transzendenz«. Der Bezug auf andere Existenz besteht im Wagnis der »existenziellen Kommunikation«. Diese geschieht zwischen zwei Menschen in ihrer Einmaligkeit aus Freiheit. In ihr wird mir nicht nur der Andere offenbar, sondern ich werde mir mit ihm offenbar, ja ich werde in ihr erst selbst wirklich. Nur im »liebenden Kampf«, in dem Solidarität entsteht, kann ich auch meine eigene Existenz gewinnen. Allerdings kann ich sie nie endgültig als Bestand sichern, denn Kommunikation ist unabschließbar und ist nur im Werden. Existenz verdankt ihr Sein nicht sich selbst, sondern dem schlechthin Anderen, der Transzendenz. Die Transzendenz ist das Umgreifende, das uns umfasst und in dem wir gegründet sind. Transzendenz ist für uns nur in »Chiffren« gegenwärtig, der Sprache der Transzendenz. Jaspers nannte die Transzendenz zwar »Gott«, aber er meinte damit nicht den sich offenbarenden Gott der christlichen Religion. Im Offenbarungsglauben sah er eine Bevormundung des Menschen, die seine Existenzwerdung verhindert.
Obwohl Martin Heidegger seine frühe Philosophie als »Fundamentalontologie« verstand und sich gegen ihre Zuordnung zur Existenzphilosophie verwahrte, ist es sinnvoll, sie unter diesem Titel zu behandeln, da er zunächst die menschliche Existenz analysierte und besonders diese Analysen wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden sind. Heidegger begriff das Menschsein als Dasein, als Da des Seins, und grenzte es vom Vorhandensein der Dinge ab. Die Grundbestimmung des Daseins ist das »In-der-Welt-Sein«. Es ist in die Welt »geworfen« und als »Sorge« gekennzeichnet, da es ihm immer um sein Sein geht.
Bei Heidegger ist das »Wesen« des Menschen »Existenz«. Der Mensch ist ausgezeichnet durch sein Seinsverständnis, das den Charakter des »Entwurfs« hat: Er entwirft sich selbst auf Möglichkeiten hin. Allerdings versteht sich der Mensch im alltäglichen Dasein nicht aus seiner »eigensten Möglichkeit«, sondern aus der ihm in seiner Welt gegebenen Wirklichkeit. Er ist meist nicht er selbst, sondern verhält sich, wie man sich verhält: Das Selbst des alltäglichen Daseins ist nicht ein Ich, sondern das »Man«. Der Mensch ist im alltäglichen Vorhandensein an die Welt »verfallen« und in das »Man« verloren; er befindet sich im Zustand der »Uneigentlichkeit«. Nach Heidegger weicht der Mensch im alltäglichen Dasein seiner Endlichkeit aus: Er verdrängt die Möglichkeit, dass der Tod bevorsteht und jeden Augenblick eintreten kann. Es gehe jedoch darum, die Möglichkeit des Todes auszuhalten, ja zu ihr »vorzulaufen«: Da der Tod das ganze eigene Dasein betrifft, wird in solcher Vorwegnahme der Möglichkeit des Todes der Mensch auf sein eigenes Dasein vereinzelt, und ihm erschließt sich seine »eigenste Seinsmöglichkeit«: seine eigentliche Existenz. Was den Menschen aus seiner »Uneigentlichkeit« heraus zur eigentlichen Existenz aufruft, ist das Gewissen. Auf diesen Ruf des Gewissens zu hören, setzt die »Entschlossenheit« des Daseins zur Selbstwahl der eigensten Seinsmöglichkeit voraus. - Von diesem existenzphilosophischen Ansatz scheint Heidegger in seiner Spätphilosophie allerdings abgekommen zu sein: In ihr denkt Heidegger den Menschen als ein Wesen, das eigentlich auf das »Sein« selbst zu hören hätte, tatsächlich aber, spätestens seit der Neuzeit, das Sein »vergessen« habe. Daher rühre letztlich die Heillosigkeit des Menschen in der heutigen Welt, aus der uns »nur noch ein Gott. .. retten« könnte.
Jean-Paul Sartre wandte sich am entschiedensten der konkreten Existenz zu. Seinen von ihm selbst so genannten »Existenzialismus« verteidigte er gegen die Vorwürfe, er sei »Nihilismus« und »Atheismus«, als einen »Humanismus«, ja als die einzige philosophische Theorie, die dem Menschen eine Würde verleihe, da er ihn nicht zum Ding mache. So ging auch Sartre bei seiner Analyse der Existenz vom Gegensatz des Menschseins und des Dingseins aus. Die Dinge sind schlicht, was sie sind. Der Mensch dagegen ist nie bloß das, als was er sich gegeben ist, sondern er entwirft sich als das, was er noch nicht ist. Erst mit dem Menschen kommt der Mangel, das Nichts, in die Welt, ja er ist selbst ein »Mangel an Sein«. Jedoch empfindet der Mensch nicht bloß diesen Mangel, sondern er vollzieht selbst die »Nichtung« des Gegebenen. Er überschreitet die Wirklichkeit auf Möglichkeiten hin. Der Mensch zeichnet sich vor allem durch seine Freiheit aus.
Gegen die Wesensphilosophie gerichtet, behauptet Sartre im Hinblick auf den Menschen, dass seine Existenz seiner Essenz vorausgeht. Das bedeutet eben, dass der Mensch kein vorgegebenes, feststehendes Wesen hat, sondern sein »Wesen« selbst wählt und entwirft. Der »erste Grundsatz des Existenzialismus« lautet dementsprechend: »Der Mensch ist, wozu er sich macht«; er ist nichts anderes als sein Entwurf. Er ist nach Sartre »zur Freiheit verurteilt«: Er hat sich die Freiheit nicht selbst gewählt, sondern sie ist ihm gegeben; und er ist verantwortlich für alles, was er tut. Die Freiheit ist ihm also aufgegeben, und es kommt darauf an, auf welchem Weg er sie verwirklicht. Sartres Ziel war es, den Menschen als Individuum zu befreien und alles zu bekämpfen, was diese Freiheit bedroht. Es ging ihm besonders um politische und soziale Befreiung derjenigen, die von anderen unterdrückt werden. Die Realisierung meiner Freiheit ist der Freiheit der Anderen verpflichtet; und der Mensch ist nicht nur für sich allein, sondern auch für die Anderen verantwortlich. Das ethische Grundprinzip sah Sartre in der Suche nach dem Menschenwürdigen. Im Zentrum seiner Philosophie steht eine dynamische Anthropologie, der jedes System und jede Institution widerstreitet - daher seine Kritik an totalitären Systemen und seine Sympathie für anarchische politische Bewegungen.
Als grundlegende Perversion menschlichen Verhaltens sah Sartre das »begründende Denken«. Da Sinn und Wert erst durch den freien Vollzug entstehen, lässt sich menschliche Existenz nicht begründen. Ebenso verfehlt wie die idealistische Konzeption der Subjektivität mit ihrem Selbstbegründungswillen sind nach Sartre die metaphysischen Theorien, die Gott zum alles begründenden Wesen machen. - In seinem Existenzialismus versuchte Sartre gerade, die Konsequenzen aus der These, dass Gott nicht existiert, zu ziehen. Insofern nannte Sartre ihn selbst »atheistisch«. - Wenn der Mensch seinen Anspruch, alles begründen zu wollen, nicht aufgibt, ist ihm seine Freiheit umsonst gegeben, ist er eine »passion inutile«, eine vergebliche Leidenschaft und seine Leidensgeschichte wäre sinnlos. Es gilt für den Menschen zu lernen, die relative Moral zu akzeptieren und das Absolute durch den historischen Prozess der Realisierung der Freiheit abzulösen.
Red.
Literatur:
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.
Wuchterl, Kurt: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl zu Heidegger. Eine Auswahl. Bern u. a. 1995.