Abstammungslehre: Kampf ums Dasein
Als am 24. November 1859 ein fast 500 Seiten umfassendes Buch des britischen Naturforschers Charles Darwin mit dem umständlichen Titel »Über den Ursprung der Arten durch natürliche Auslese oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein« erschien, war kaum abzusehen, welche geistigen Erschütterungen es auslösen würde. Mehr als 20 Jahre lang hatte Darwin gezögert, bevor er seine revolutionären Gedanken veröffentlichte, aus wissenschaftlicher Vorsicht, denn er wollte seine Evolutionstheorie anhand möglichst vieler Beobachtungen überprüfen, und aus Furcht, dass seine Zeitgenossen mit Ablehnung und Feindseligkeit reagieren würden. Sich zur Idee der Evolution bekennen sei »wie einen Mord gestehen«, hatte Darwin 1844 einem Freund anvertraut.
Es ist ein wichtiger Grundsatz der Wissenschaft, dass jede Theorie von verschiedenen Standpunkten aus überprüft wird, und je mehr Widerlegungsversuche sie erfolgreich überstanden hat, umso sicherer können wir sein, dass sie richtig ist. Zunächst muss eine neue Theorie jedoch die Beachtung der Wissenschaftler finden. Warum sind Darwins Forschungen nicht vergessen worden, wie das anderen widerfuhr?
Vom 27.Dezember 1831 bis zum 2. Oktober 1836 war Darwin auf der »Beagle«, einem Vermessungsschiff der britischen Admiralität, als Naturforscher und standesgemäße Begleitung des Kapitäns um die Welt gesegelt. Als Darwin mit der »Beagle« England verließ, hatte er noch geglaubt, dass jede Art unabhängig erschaffen worden war. Die ersten vorsichtigen Zweifel an dieser Ansicht zeigten sich auf den letzten Etappen seiner Reise, und wenige Monate nach seiner Rückkehr begann er seine Gedanken über die Entstehung neuer Arten in einer Reihe von Notizbüchern niederzuschreiben. Diese blieben erhalten und zeigen, wie Darwin im Wechsel zwischen spekulativen Hypothesen, genauem Beobachten und kritischem Nachdenken zu seiner späteren Theorie über die Evolution der Arten kam. Die Reise mit der »Beagle« machte Darwin aber auch zu einem bekannten Wissenschaftler und Forschungsreisenden, dessen Ergebnisse nicht so einfach ignoriert werden konnten.
Vererbung erworbener Eigenschaften und Selektion
Darwins Buch sorgte noch für großes Aufsehen. Er wies nicht nur die Evolution der Arten nach, die deutlich der Idee eines Schöpfungsaktes widersprach, sondern zeigte auch einen Mechanismus auf, mit dem man diese Veränderungen erklären konnte. Diese Theorie der »natürlichen Auslese« oder Selektionstheorie ist der wohl bemerkenswerteste und zugleich umstrittenste Beitrag Darwins zur Biologie. Erst seit den 1940er-Jahren wird die Selektionstheorie im Rahmen der synthetischen Theorie der Evolution allgemein anerkannt.
Darwin war nicht der erste Naturforscher, der die Veränderlichkeit der Arten behauptet hatte. Am bekanntesten wurde die Evolutionstheorie von Jean-Baptiste de Lamarck. 1809, also genau 50 Jahre vor Darwins Buch, erschien Lamarcks Hauptwerk »Zoologische Philosophie«. Lamarck erklärt die Veränderung der Arten mit zwei sich ergänzenden Prinzipien: einem inneren Trieb zur Vervollkommnung und Anpassungen der Organismen an ihre Umwelt, die dann auf die Nachkommen vererbt werden. Die Vorstellung einer »Vererbung erworbener Eigenschaften« war bis in das 20. Jahrhundert weit verbreitet. Lamarck erwähnt als Beispiel die Giraffe. Der lange Hals soll dadurch entstanden sein, dass sich frühere Generationen von Giraffen nach Blättern an besonders hohen Ästen reckten. Der deutsche Naturforscher August Weismann hat 1882 die Vorstellung, dass »erworbene«, das heißt nicht ererbte Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben werden, scharf kritisiert, und heute gilt sie als widerlegt.
Wie aber stellte sich Darwin den Mechanismus der Evolution vor? Er ging von folgenden Beobachtungen aus: Alle Organismen tendieren dazu, sich exponentiell zu vermehren; gleichzeitig bleibt aber ihre Zahl von kurzen Schwankungen abgesehen in der Regel stabil, auch weil es nur eine begrenzte Menge an Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Ressourcen gibt. Da die Organismen mehr Nachkommen produzieren als überleben können, kommt es zwischen den Individuen einer Art zu einem Kampf ums Dasein. Ein wichtiger Unterschied zur traditionellen Auffassung besteht darin, dass dieser Kampf ums Dasein nach Darwin nun nicht zwischen Jägern und Beutetieren, beispielsweise zwischen Wölfen und Schafen, stattfindet, sondern immer nur jeweils unter den Jägern und den Beutetieren derselben Art.
Wenn man nun annimmt, dass es zwischen den Individuen gewisse erbliche Unterschiede gibt, so kann man weiter folgern, dass die Chance zu überleben von diesen Unterschieden abhängt. Dieses unterschiedliche Vermögen zu überleben, das Darwin natürliche Auslese nennt, führt durch viele Generationen zur Evolution. Denn je besser ein Individuum sich an eine besondere Situation angepasst ist, desto größer sind seine Chancen, zu überleben und Nachkommen zu produzieren. Der Ausdruck »Kampf ums Dasein« wurde in der Vergangenheit oft einseitig im Sinne eines blutigen Kampfes aufgefasst. Dies ist bei Darwin aber nur ein Aspekt. Als anderes Beispiel nennt er den Fall einer einzelnen Pflanze, die am Rande der Wüste ums Überleben kämpft. Zudem schließt der Kampf ums Dasein die Zusammenarbeit zwischen Individuen keineswegs aus. Viele Organismen sind auf Kooperation und gegenseitige Hilfe angewiesen, um zu überleben. Und schließlich steht bei der Evolution nicht das Überleben des Individuums im Vordergrund, sondern die Zahl der überlebenden Nachkommen.
Der Mensch - Produkt der Evolution
Darwins Theorie hätte wohl kaum dieses Aufsehen erregt, wenn sie nicht das traditionelle Bild des Menschen von sich selbst in den Grundfesten erschüttert hätte. Vor allem die Vorstellung, dass die Menschen, ihre geistigen Fähigkeiten und moralischen Überzeugungen durch einen natürlichen Vorgang, nämlich die natürliche Auslese, entstanden waren, hat erbitterten Widerstand hervorgerufen. Welche Folgerungen für die Organisation unserer Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen sind zu ziehen, wenn die Selektionstheorie richtig ist? Muss es Überbevölkerung, Hunger und Kriege geben, damit die Menschheit sich weiterentwickelt, und führt es umgekehrt zur Degeneration, wenn der Kampf ums Dasein beim Menschen durch die Medizin abgeschwächt wird? Und schließlich wurde auch die Frage aufgeworfen, ob man die Erkenntnisse der Selektionstheorie benutzen sollte, um die Evolution des Menschen zu beeinflussen. In der Tier- und Pflanzenzucht ist das längst zur Routine geworden und auch die Idee einer Verbesserung der Menschheit durch die Biologie wurde schon im 19. Jahrhundert im Rahmen der »Eugenik« diskutiert. Seit dem Missbrauch durch den Nationalsozialismus gilt diese Idee als weitgehend diskreditiert. Es gibt aber auch heute noch einzelne Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass es möglich ist, die biologische Evolution des Menschen mit Methoden zu beeinflussen, die mit humanen und demokratischen Wertvorstellungen vereinbar sind. Durch den Einsatz neuer gentechnischer Methoden soll dies ohne Kampf, Hunger und Tod erfolgen. Dies sind aber Fragen, die nicht von der Wissenschaft allein beantwortet werden können, sondern bei denen sich erweisen muss, ob unsere Gesellschaft ihre Wertvorstellungen ernst nimmt.
Was die wissenschaftliche Frage angeht, so sind die modernen Biologen mit wenigen Ausnahmen einig, dass sich Darwins Theorien der Evolution und der Selektion bewährt haben. Neue Erkenntnisse der Molekularbiologie, der Paläontologie und anderer Wissenschaften führten zwar zur Weiterentwicklung, aber bis heute bilden Darwins Theorien die Grundlage der Evolutionsbiologie.
Dr. Thomas Junker