Euthanasie
[griechisch »schöner Tod«] die, -, Sterbehilfe für unheilbar Kranke und Schwerstverletzte mit dem Zweck, ihnen ein qualvolles Ende zu ersparen. Die Euthanasie i. w. S. hat mehrere Bedeutungen: 1) Tötung auf Verlangen (aktive Euthanasie); 2) a) Hilfe beim Sterben ohne Lebensverkürzung, b) Hilfe zum Sterben mit in Kauf genommener Lebensverkürzung (passive Euthanasie).
Recht:
Die gesetzlichen Bestimmungen des StGB verwenden den Begriff nicht; die absichtliche und aktive Lebensverkürzung ist auch dann, wenn sie auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen eines Sterbenden erfolgt, strafbar (Tötung auf Verlangen).Außerordentlich umstritten ist die Sterbehilfe (Abschalten lebensverlängernder Apparate oder Unterlassen entsprechender ärztlicher Maßnahmen bei völliger Aussichtslosigkeit weiterer Behandlung eines unwiderruflich bewusstlosen Patienten).
Geschichte:
Der Begriff Euthanasie findet sich bereits in der griechisch-römischen Antike; gemeint ist damit ein »guter«, d. h. schneller, leichter und schmerzloser Tod, manchmal auch der ehrenvolle Tod eines Kriegers im Kampf. Euthanasie bedeutete jedoch nur die bestimmte Todesart, nie bezog sie sich auf das Eingreifen eines Menschen in den Sterbeverlauf. Erstmals sah F. Bacon (1605) die Schmerzlinderung bei Sterbenden als eine ärztliche Aufgabe an (»Euthanasia medica«).
In den Kreisen des Monistenbundes begann 1913 die Diskussion um die Straffreiheit einer Euthanasie mit gezielter Lebensverkürzung als Tötung auf Verlangen von Sterbenden und unheilbar Kranken. Das Recht des Individuums auf einen angenehmen Tod ist auch Programmpunkt der seit den 1930er-Jahren v. a. in den angelsächsischen Ländern entstehenden Euthanasiegesellschaften. Ihre Forderungen stießen jedoch bisher gleichermaßen auf die Ablehnung des Gesetzgebers wie der ärztlichen Standesvertretungen und der Kirchen.
Unter der irreführenden Tarnbezeichnung »Euthanasie« führte die nationalsozialistische Regierung in Deutschland ein Programm (1940-45) zur systematischen Tötung missgebildeter Kinder (Gehirnmissbildung) und erwachsener Geisteskranker durch. Sie konnte sich dabei auf eine sozialdarwinistisch geprägte Humangenetik stützen, die unter der Bezeichnung »Rassenhygiene« bereits in der Zeit der Weimarer Republik (1918/19-33) vertreten worden war. In der von dem Juristen K. Binding und dem Psychiater A. Hoche 1920 veröffentlichten Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«, die den Nationalsozialisten u. a. als Rechtfertigung diente, ging es nicht mehr nur um Sterbende, sondern v. a. um die Tötung »leerer Menschenhülsen« und »Ballastexistenzen«, deren Pflege der menschlichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden könnte.
Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« - so auch die nationalsozialistische Terminologie - durch Tötung, die seit 1938 in Abkehr von der zunächst vordergründig praktizierten »Erbgesundheitspolitik« (Zwangssterilisation; Eugenik) offen propagiert wurde, ging auf eine Zustimmung A. Hitlers zur Gewährung des »Gnadentodes durch namentlich zu bestimmende Ärzte« vom Oktober 1939 zurück, die auf den 1. 9. 1939 datiert wurde. Am 9. 10. 1939 begann die »planwirtschaftliche Erfassung« der Patienten in allen staatlichen sowie der Inneren Mission unterstellten Heil- und Pflegeanstalten. Am 18. 8. 1939 war die Meldepflicht für »missgestaltete usw. Neugeborene« eingeführt worden. Unter Verantwortung der Geheimorganistion »T 4« (Bezeichnung nach dem Sitz der im Herbst 1939 eingerichteten »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin) fielen dem zwischen Anfang 1940 und August 1941 durchgeführten nationalsozialistischen Euthanasieprogramm (Tarnname: »Aktion T 4«) etwa 70 000 geistig oder psychisch kranke Menschen, aber auch Kinder und Jugendliche aus Fürsorgeeinrichtungen sowie Asoziale und Juden durch Massenvergasungen zum Opfer. Berüchtigte zentrale Tötungsanstalten befanden sich in Brandenburg an der Havel, Bernburg (Saale), Grafeneck (Gemeinde Gomadingen, Landkreis Reutlingen), Hadamar, Hartheim (bei Linz) und Sonnenstein.
Am 23. 8. 1941 wurde die organisierte Mordaktion zunächst aufgrund kirchlicher Proteste (Bischof T. Wurm, Kardinal C. A. Graf von Galen) gestoppt, aber unter strengerer Geheimhaltung von September 1941 bis Mitte 1944 (in einigen Anstalten bis April 1945) fortgesetzt; ihr fielen noch einmal 20 000 bis 30 000 Menschen (auch aus den von Deutschland besetzten Gebieten Polens und der UdSSR, auch kranke »Fremdarbeiter«) zum Opfer.
Nach Kriegsende erfolgte in zahlreichen Fällen eine Verurteilung von belasteten Ärzten und Pflegepersonal.
Literatur:
K. Engisch: Der Arzt an den Grenzen des Lebens (1973);
Das Recht auf einen menschenwürdigen Tod?, bearb. v. P. Fritsche u. a. (1977);
K. Nowak: »E.« u. Sterilisierung im »Dritten Reich« (31984);
M. Rudnick: Behinderte im Nationalsozialismus. Von der Ausgrenzung u. Zwangssterilisation zur »E.« (1985);
E. oder soll man auf Verlangen töten?, hg. v. V. Eid (21985);
Aktion T 4 1939-1945. Die »E.«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, hg. v. G. Aly (21989);
M. Pollak: Rassenwahn u. Wiss. (a. d. Frz., 1990);
Dokumente zur »E.«, hg. v. E. Klee (11.-12. Tsd. 1992);
Eugenik, Sterilisation, »E.«. Polit. Biologie in Dtl. 1895-1945, hg. v. J.-C. Kaiser u. a. (1992);
H.-W. Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, E. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890-1945 (21992);
J. S. Hohmann: Der »E.«-Prozeß Dresden 1947 (1993);
Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, hg. v. A. Mitscherlich u. F. Mielke (Neuausg. 116.-117. Tsd. 1993);
W. Brill: Pädagogik im Spannungsfeld von Eugenik u. E. (1994);
E. Klee: »E.« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (Neuausg. 21.-22. Tsd. 1994);
C. Beck: Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation u. Vernichtung »lebensunwerten« Lebens (21995, Bibliogr.);
T. Bastian: Furchtbare Ärzte. Medizin. Verbrechen im Dritten Reich (21996).