Anarchismus: Anarchistische Bewegungen im 19. Jahrhundert
Der Anarchismus zielte auf die Beseitigung jeder Autorität und jedes rechtlichen Zwangs. Er forderte das größte Ausmaß der persönlichen Freiheit in einem freien und jederzeit lösbaren Zusammenschluss von Individuen. Es kann unterschieden werden zwischen einem individualistischen und einem kollektivistisch-kommunistischen Anarchismus.
Individualistischer Anarchismus
Die beiden Hauptvertreter des individualistischen Anarchismus waren der englische Dissidentenprediger William Godwin mit seiner »Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Moral und Glückseligkeit« (1793) und der Franzose Pierre Joseph Proudhon mit seinem Buch »Was ist Eigentum?« (1840).
Godwin, Prediger und Moralist
Im Zentrum von Godwins Denken steht die Gerechtigkeit. Er geht davon aus, dass es ein unveränderliches Vernunftgesetz gibt, das der Einzelne jedoch nur erkennen kann, wenn er sich ganz auf die eigene Erfahrung, die Autorität der eigenen Vernunft und des eigenen Gewissens verlässt. Jede Orientierung an institutionalisierten Autoritäten muss dazu führen, dass die Wahrheit verstellt und pervertiert wird.Godwin bejaht den gesellschaftlichen Zusammenschluss der Menschen, da er den selbstlosen Bedürfnissen des Menschen entgegenkomme, lehnt aber den Staat entschieden ab, da dieser lediglich den egoistischen Bedürfnissen Einzelner diene. Der Staat ist für ihn nur der institutionelle Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit. Den Abbau von Herrschaft will Godwin durch eine gleichmäßige Verteilung des Bodens und durch gesellschaftliche Diskriminierung des Reichtums erreichen. Allein die individuelle Leistung für das Gemeinwohl dürfe die Quelle von Sozialprestige sein.
Proudhon, ein Vordenker des Sozialismus
Proudhon ist vor allem bekannt geworden durch seine provozierende Antwort auf die selbst gestellte Frage »Was ist das Eigentum?« — »Eigentum ist Diebstahl.« Freilich meinte Proudhon — insoweit ganz Kleinbürger — damit nicht das sauer erworbene Eigentum als Ergebnis eigener Arbeit, sondern das Eigentum als Verfügen über eine Sache. Ihm ging es nicht um eine Abschaffung des Eigentums, sondern um seine Bändigung.
Für derartige Thesen hatte Karl Marx, der in Proudhon zunächst einen Gefolgsmann gesehen und im Winter 1844/45 mit ihm in Paris in einem intensiven Gedankenaustausch gestanden hatte, nur Spott übrig. Unüberbrückbare Differenzen zwischen Marx und Proudhon bestanden vor allem hinsichtlich ihres jeweiligen Revolutionsbegriffs. In typisch anarchistischer Manier vertrat Proudhon den Vorrang der sozialen vor der politischen Revolution und lehnte jede revolutionäre Gewaltanwendung ab. Die Revolution muss für ihn »natürlich, friedlich und historisch begründet« sein. Proudhon will die ökonomische Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft, lehnt aber jede Form von Kollektivismus oder Kommunismus ab. Der zentrale Begriff seiner politischen Vorstellungswelt ist »Freiheit«. Nach seinen Vorstellungen soll die freie Assoziation von Gruppen und Verbänden staatliche Autorität überflüssig machen und »Ordnung mit Anarchie« verbinden. Im Zeichen der Herrschaftslosigkeit soll ein System freier Bündnisse die gesellschaftlichen Funktionen ohne staatliche Autorität verteilen.
Proudhon, dessen Ahnen Bauern gewesen waren, orientierte sich in seinen Vorstellungen ganz an der Lebensweise selbstständiger Bauern und Handwerker. Er lehnte jeden Zentralismus und jede Bürokratie ab. Übertrug man diese Vorstellungen auf die Industriegesellschaft, ergab sich daraus das anarchistische Programm, nach dem die Arbeiter ohne politische Oberinstanzen in den Werkstätten die Produktionsmittel selbst übernehmen sollten. Damit wurden die Gewerkschaften, die Syndikate, zu den Organen der revolutionären Bestrebungen der Arbeiterschaft. Dieser Gedanke des Syndikalismus fand vor allem in Südeuropa bald eine große Anhängerschaft.
Kollektivistisch-kommunistischer Anarchismus
Der kollektivistisch-kommunistische Anarchismus erstrebte eine klassen- und staatenlose Kollektivordnung. Seine Grenzen zum Sozialismus und Kommunismus waren daher fließend. Als sein eigentlicher Begründer gilt der Russe Michail Aleksandrowitsch Bakunin.
Bakunin, der Sozialrevolutionär
Selbst Personen, die sich mit seinen revolutionären Vorstellungen in keiner Weise identifizierten, waren von der kolossalen Statur Bakunins, der Dynamik und Ausstrahlungskraft seiner bizarren Persönlichkeit fasziniert. Er war in erster Linie impulsiver Agitator, weniger der kühle Analytiker. Es drängte ihn zur Aktion. Was Bakunin erreichen wollte, war nichts Geringes: »... ein neuer Himmel und eine neue Erde, eine jugendliche und herrliche Welt, in der alle gegenwärtigen Dissonanzen zur harmonischen Einheit sich auflösen werden«. Auf dem Wege dorthin verlieh Bakunin dem Mythos der Gewalt als Macht der Zerstörung neue Zugkraft: »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.« Es ging ihm um »die radikale und unerbittliche Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Welt in ökonomischer wie in religiöser, metaphysischer, politischer, juridischer und bürgerlicher Hinsicht« in einem einzigen revolutionären Akt. Dieses Konzept war zutiefst unpolitisch, ja antipolitisch. Es schloss jede Form von Beteiligung der Arbeitermassen an den politischen Institutionen aus und setzte stattdessen auf die »große Verweigerung«, die revolutionäre Selbstbefreiung der Massen. Die Revolution bedurfte nach Bakunin einer internationalen hierarchischen und geheimen Kaderorganisation kompromissloser Revolutionäre, deren Aufgabe es sein sollte, den revolutionären Geist der Massen zu fördern und nach vollbrachter Revolution durch eine Diktatur die Entstehung neuer Autoritäten zu verhindern. In diesem Sinne wollte Bakunin in schärfstem Gegensatz zu Karl Marx die Internationale zu einer Art Generalstab ihm ergebener Männer ausbauen. Im Herbst 1868 gründete Bakunin die »Internationale Allianz der Sozialen Demokratie« und übernahm selbst die Leitung des Zentralbüros in Genf.
Sergej Netschajew, Lyriker und Nihilist
In Genf traf Bakunin 1869 seinen Landsmann Sergej Gennadijewitsch Netschajew, eine Begegnung, die seinem revolutionären Aktivismus einen terroristischen Einschlag verlieh. Netschajew trat für eine »Propaganda der Tat« und für die »Allzerstörung« ein. Gemeinsam mit Bakunin verfasste er einen revolutionären Katechismus, der die Revolution zum Selbstzweck erklärte. Mit pseudoreligiösen Anklängen heißt es dort: »Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch. Er ist erbarmungslos gegen den Staat im Allgemeinen und für die gesamte zivilisierte Klasse der Gesellschaft, und er darf ebenso wenig Gnade für sich erwarten.«
Bakunin im Streit mit Marx um den »richtigen« Weg
Auf dem Kongress der Internationale von 1872 forderten die anarchistischen Gruppen die »völlige Vernichtung des Staates als der Verkörperung der politischen Macht« anstelle des politischen Kampfes der Arbeiterklasse um die Beteiligung an der politischen Macht. Dies führte zum Bruch mit Karl Marx und zum Ausschluss Bakunins aus der Internationale. Marx und Engels waren der Auffassung, das Proletariat müsse den bürgerlichen Staat erobern und zum Instrument seines Befreiungskampfs umfunktionieren. Für Bakunin dagegen hatte die Zerschlagung des Kapitalismus und diejenige des Staates in ein und derselben Revolution stattzufinden. In seinen letzten Lebensjahren hatte der physisch erschöpfte Bakunin den Glauben an die bevorstehende Revolution verloren. Am 15. Februar 1875, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, schrieb er an den französischen Geographen Elisée Reclus: »Ich stimme mit Dir überein zu sagen, dass die Stunde der Revolution vorüber ist. .., weil ich zu meiner großen Verzweiflung konstatiert habe und täglich von neuem konstatiere, dass der revolutionäre Gedanke, die revolutionäre Hoffnung und Leidenschaft in den Massen sich absolut nicht vorfinden.«
Aktionsformen des Anarchismus
Besondere Popularität erlangte der Anarchismus in seiner syndikalistischen und terroristischen Variante in Italien, wo er auf die Tradition der Geheimbünde zurückgreifen konnte. Ein Aufstandsversuch in Bologna Mitte der 1870er-Jahre, an dem Bakunin teilnahm, scheiterte zwar. Dennoch war der italienische Sozialismus noch für fast zwei Jahrzehnte stark vom Anarchismus geprägt.
In Spanien übte der Anarchismus noch bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts einen nachhaltigen Einfluss auf das ländliche und industrielle Proletariat aus. Hier kam es zu gewalttätigen Ausbrüchen wie in der Semana Trágica (Tragische Woche) im Juli 1909. Nach der Hinrichtung des Anarchisten Francisco Ferrer y Guardia wurden in einem spontanen Aufstand in Barcelona Kirchen und Klöster in Brand gesetzt und zahlreiche Nonnen und Mönche ermordet. Im Spanischen Bürgerkrieg wurde die anarchistische Bewegung durch die Kommunisten schließlich blutig ausgeschaltet.
Der Anarchismus in Gestalt des Terrorismus
Eine nachhaltige Wirkung in Europa entfaltete vor allem in den 1880er- und 1890er-Jahren die terroristische Seite des Anarchismus. Sie äußerte sich in wahl- und ziellosen Bombenattacken auf Cafés, Theater und andere symbolhafte Orte bourgeoiser Lebensweise, vor allem aber auch in Mordanschlägen auf Angehörige der europäischen Oberschicht. In rascher Folge wurden im Jahre 1878 Attentate versucht auf den deutschen Kaiser Wilhelm I., König Alfons XII. von Spanien und König Umberto I. von Italien. 1881 zerriss eine Bombe den russischen Kaiser Alexander II. Weitere Opfer anarchistischen Terrors um die Jahrhundertwende waren der französische Staatspräsident Marie François Sadi Carnot, Kaiserin Elisabeth von Österreich, König Umberto I. von Italien, König Karl I. von Portugal sowie die spanischen Ministerpräsidenten Antonio Cánovas del Castillo und José Canalejas y Méndez. Über das blanke Entsetzen in der europäischen Oberschicht hinaus hat der terroristische Anarchismus keine direkten tief greifenden Wirkungen auf die bestehenden Staats- und Gesellschaftssysteme entfaltet. Er war allerdings ein Symptom für die explosive Gärung innerhalb der europäischen Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkrieges.
Der Anarchosyndikalismus in Frankreich
In Frankreich war der Anarchismus in Gestalt des Anarchosyndikalismus verbreitet. Besonders Proudhons Vorstellungen von den föderativen Zusammenschlüssen gewerkschaftlicher Organisationen als Modell einer künftigen herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung waren lebendig geblieben. Die französische Gewerkschaftsbewegung war gespalten und wollte die Emanzipation der Arbeiterschaft erreichen teils mit den legalen Methoden des Arbeitskampfs, teils aber auch mit den syndikalistischen Methoden des Massen- und Generalstreiks. Der Syndikalismus ging von der Annahme aus, dass politische Aktionen sinnlos und die sozialistischen Politiker in keiner Weise besser als die bürgerlichen seien. Dieses Misstrauen gegenüber der Politik und der Glaube an die »direkte Aktion« verbanden den Syndikalismus mit dem Anarchismus. Mit Streiks, Sabotage, Boykott und, wenn nötig, dem Generalstreik sollte dem kapitalistischen Bürgertum die Macht entrissen werden. An die Stelle der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sollte ein System von dezentralen Produktionseinheiten unter gewerkschaftlicher Leitung treten.
Der »Kult der Gewalt«
Die anarchistische Lehre von der »direkten Aktion«, die die bestehende Gesellschaftsordnung durch ständige kleine Stiche zerstören sollte, fand besonders bei der Arbeiterschaft der wirtschaftlich rückständigen Länder Europas wie Russland, Spanien und Italien zunächst weitaus größeren Widerhall als der viel zu abstrakte »wissenschaftliche Sozialismus« von Marx und Engels. Marx und Engels hatten den Sieg des Proletariats als Endergebnis eines langen wirtschaftlich-politischen Entwicklungsprozesses vorausgesagt. Das war nicht nur schwer zu verstehen, sondern lag auch in weiter Zukunft. Das anarchistische Modell einer dezentralisierten Gesellschaft mit selbstständigen landwirtschaftlichen und industriellen Genossenschaften entsprach der konservativen, ländlich oder handwerklich geprägten Mentalität der Arbeiterschaft in jenen Ländern viel eher als die marxistische Zukunftsvision. In Spanien und Russland, wo die Lage der ländlichen und industriellen Arbeiterschaft besonders prekär war und ein langwieriger politischer Prozess jeder Hoffnung auf eine rasche und nachhaltige Besserung entgegengestanden hätte, war die anarchistische Botschaft besonders attraktiv. Die Arbeiterschaft in jenen Ländern war von einem tiefen Misstrauen gegen die Methoden parlamentarischer Politik erfüllt, an der sich die sozialistischen Parteien seit den 1870er-Jahren beteiligten. Es bedurfte allerdings erst der fragwürdigen Anstrengung von Intellektuellen wie beispielsweise Georges Sorel, um die syndikalistische Lehre zu einem »Kult der Gewalt« aufzuwerten. In seinen 1908 erschienenen »Überlegungen über die Gewalt« pries Sorel nicht nur den Mythos des Generalstreiks, sondern er sah darüber hinaus in der syndikalistischen Bewegung auch das richtige Mittel, die seiner Meinung nach dekadente rationalistische Kultur der bürgerlichen Gesellschaft zu zerschlagen und neuen, ursprünglichen Kräften zum Durchbruch zu verhelfen.
Nach dem Fehlschlag des großen Eisenbahnerstreiks von 1910 erlitt der Syndikalismus in Frankreich einen herben Rückschlag. Nur in den iberischen Ländern behielt er auch weiterhin seinen Einfluss. In Deutschland wie in ganz Mittel- und Westeuropa ging die Tendenz immer stärker dahin, sich auf die eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben zu konzentrieren und nicht das Erreichte durch riskante politische Aktionen aufs Spiel zu setzen.
Prof. Dr. Hans-Werner Niemann, Oldenburg
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
Marxismus: Historische Entwicklung