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DOSTOJEWSKIJ UND TOLSTOI UND DIE RUSSISCHE ERZÄHLKUNST

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Dostojewskij und Tolstoi und die russische Erzählkunst
 
Mit der Erzählprosa des 19. Jahrhunderts emanzipierte sich die russische Literatur von der Nachahmung westlicher Vorbilder und verschaffte sich einen Platz in der Weltliteratur. Am Beginn der großen russischen Erzählkunst stehen Aleksandr Puschkins Zyklus »Die Erzählungen Belkins« (1831) und die Novelle »Pique Dame« (1834). Puschkin nahm konventionelle Sujets der klassizistischen, sentimentalistischen und romantischen Literatur auf, motivierte sie auf neue Weise und bereitete damit jene plausible Charakterologie, vielschichtige Psychologie und wohlbegründete Handlungsfügung vor, die zu Merkmalen des Realismus werden sollten. Weitere Stationen in der Entwicklung der russischen Erzählkunst waren Michail Lermontows Roman »Ein Held unserer Zeit« (1840) und Nikolaj Gogols Petersburger Erzählungen (ab 1833). Noch der Motivik und Mentalität der Romantik verpflichtet, und zwar der von Lord Byron beziehungsweise E. T. A. Hoffmann geprägten Romantik, entwickelten die beiden Erzähler Verfahren des Realismus.Lermontow demonstrierte an seinem Helden die Winkelzüge der psychologischen Selbstanalyse und die Paradoxien, die diese Analyse in der Seele bloßlegt. Gogol verband seine fantastischen Geschichten mit einer grotesken Beschreibung der Großstadt Petersburg, ihrer Straßen, Plätze und sozialen Milieus, einer Beschreibung, die - zumindest in der Wahrnehmung der Zeitgenossen - eine neue, antiromantische, antiidealistische, den kleinen Mann und seine soziale Sphäre in den Mittelpunkt rückende »menschenfreundliche« Literatur einleitete. Die »natürliche Schule«, wie die neue Richtung zunächst polemisch und dann emphatisch genannt wurde, artikulierte sich vor allem in der Gattung der »physiologischen Skizze«, in der gesellschaftskritischen Beschreibung sozialer Milieus und ihrer Vertreter, und neigte zur Typisierung.
 
Trotzdem ging aus der »natürlichen Schule« eine Reihe großer Meister des eigentlichen Erzählens hervor. Zu ihnen gehörte Iwan Gontscharow, dessen Erstling »Eine alltägliche Geschichte« (1847) von Wissarion Belinskij, dem Literaturpapst der Zeit und Propagator der »natürlichen Schule«, begeistert begrüßt wurde und später die Geltung des ersten realistischen Romans der russischen Literatur erlangte. Belinskijs Forderung einer sozialkritisch wirkenden, wahrhaft »realen« Literatur erfüllte kein Schriftsteller so unmittelbar wie Michail Saltykow-Schtschedrin, der in satirischen Skizzen, Erzählungen und in einem Roman leidenschaftlich die gesellschaftlichen Verhältnisse des zaristischen Russland geißelte. Mit Beschreibungen der Bauern im Gouvernement Orel, die in der Tradition der naturalistischen Skizze zu stehen schienen, betrat 1847 Iwan Turgenjew die literarische Bühne. Als seine politisch harmlosen stimmungsmalenden Erzählungen, die als Beschreibungen des Volkslebens gedacht waren, unter dem Titel »Aufzeichnungen eines Jägers« (1852) als Buch erschienen, hatten sie, als flammender Aufruf gegen die Leibeigenschaft verstanden, erheblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Diskussion der 50-Jahre. Die sechs Romane, Zeitromane mit den repräsentativen Helden der zeitgenössischen russischen Gesellschaft, den Idealisten, Anarchisten, »Nihilisten« und »überflüssigen Menschen«, die Turgenjew zwischen 1856 und 1877 veröffentlichte, machten den Autor nicht nur in Russland überaus populär. In Westeuropa erlangte er als erster russischer Schriftsteller hohe Anerkennung. Noch 1878 bezeichnete ihn Henry James als »the novelist's novelist«, und er stellte ihn über die französischen Romanciers. Als aber der Stern Fjodor Dostojewskijs und Lew Tolstois aufstieg und das westliche Publikum eine neue Qualität der russischen Literatur kennen lernte, wurde Turgenjews sensible, nuancenreiche, poetische Erzählkunst bald thematisch als zu zeitgebunden, in ihrer ausgeglichenen Stimmung als zu europäisch und in ihrer philosophisch-psychologischen Dimension als zu flach empfunden.
 
Dostojewskij und Tolstoi, die überragenden Erzählkünstler des russischen Realismus, sind von jeher als Antagonisten wahrgenommen worden, als Verkörperungen entgegengesetzter »Seinskonzepte«, als Attraktionen für gegensätzlich gestimmte Seelen und Geister. »Tolstoy or Dostoevsky« heißt charakteristischerweise das bekannte Buch des Amerikaners George Steiner (1959), der Tolstoi, den »Epiker«, dem »Dramatiker« Dostojewskij gegenüberstellt, den Rationalisten dem Visionär, den Heiden dem Christen. Schon 1900 hatte Dmitrij Mereschkowskij den »Seher der Seele« Dostojewskij mit dem »Seher des Fleisches« Tolstoi konfrontiert. Für Wikentij Weressajew war Tolstoi die Verkörperung des »lebendigen Lebens«, während Dostojewskij gleichgültig gegenüber der Natur, besessen vom Kranken und Sterbenden war. Im Gegensatz dazu postulierte der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin für Dostojewskij eine ganz neue, »dialogische« Weltsicht und einen innovativen, »polyphonen« Romantypus, während Tolstoi das weniger schmeichelhafte Merkmal des Monologismus zufiel. »In Tolstois Welt gibt es, neben der Stimme des Autors, keine zweite gleichberechtigte Stimme.«
 
Dostojewskij, geboren 1821, gestorben 1881, stammte aus dem niederen Adel, fristete aber zeitlebens die Existenz eines Mannes aus den unteren Schichten. Sein schöpferisches Leben wird durch die sibirische Gefangenschaft (1850-59) in zwei Phasen geteilt. Im Frühwerk verknüpfte Dostojewskij den lokalen Hintergrund und das Personal der »natürlichen Schule«, die Großstadt Petersburg und den kleinen Beamten, mit Geschichten, die die Innenwelt der sozial und psychologisch prägnant konturierten Helden und ihr problematisches Verhältnis zur Außenwelt beleuchten. Von E. T. A. Hoffmann und Gogol, die zahlreiche Situationen und Motive vorgegeben haben, entfernte sich Dostojewskij durch eine Reihe charakteristischer Verschiebungen: Das Fantastische der romantischen Erzählung ist aus der Außenwelt in die Innenwelt verlegt, die dem Helden selbst als eine fremde gegenübersteht. Auch wo der Leser noch zwischen realistischer und fantastischer Motivierung der Handlung schwanken mag - etwa in »Der Doppelgänger« (1846) und in »Die Wirtin« (1847) -, lässt sich das Fantastische restlos als Halluzination oder Fieberwahn auflösen. Die auktoriale, von einem allwissenden Erzähler ausgehende Darbietung weicht der durchgängigen Perspektivierung durch das Prisma der Person. Die Personenrede wird nicht nur konsequent charakterologisch individualisiert, sondern reflektiert auch in ihren Defekten und Aphasien die angespannte Bewusstseinssituation der Helden, wie in »Arme Leute« und »Herr Prochartschin« (beide 1846) zu sehen ist. Der personalen Perspektivierung entspricht im Textaufbau die Ausdehnung der das Personenbewusstsein reflektierenden und zugleich verschleiernden Techniken der erlebten Rede und damit die Pseudo-Objektivität der Darbietung, wie in »Der Doppelgänger«. Thematisch dominiert im Frühwerk das Problem der Identität des Helden, dem, von seinen Mitmenschen und seinem Alter Ego infrage gestellt, in Wachträumen andere Existenzmöglichkeiten vorschweben.
 
Ein Schlüsselwerk der zweiten Schaffensphase sind die »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« (1864), eine Replik auf Nikolaj Tschernyschewskijs utopisch-sozialistischen Roman »Was tun?« (1863). War Dostojewskij vor seiner sibirischen Zeit noch Anhänger des französischen utopischen Sozialismus, so rechnet er in den Aufzeichnungen des Kellerlochmenschen mit der Fortschrittsideologie seiner Zeit ab. Die Möglichkeit einer rationalen, Glück bringenden Einrichtung des Lebens wird mit dem Hinweis auf die Sucht des Menschen nach Widerspruch, das irrationale Verlangen nach unbedingter Behauptung seines Willens bestritten. Thematisch und erzähltechnisch hat dieser Erzählmonolog, der die Form eines angespannten Dialogs mit einem imaginären Gegenüber annimmt, einen weit über die russische Literatur hinaus reichenden Einfluss auf die moderne und avantgardistische Erzählkunst gehabt.
 
In den 60er- und 70er-Jahren entstanden die fünf großen Romane: »Schuld und Sühne«/»Verbrechen und Strafe« (1866), »Der Idiot« (1868), »Die Dämonen« (1871-72), »Der Jüngling« (1875) und »Die Brüder Karamasow« (1879-80). Ihre Wirkung beruht auf der genialen Verschmelzung verschiedener Gattungen unterschiedlicher kultureller Ebenen. Philosophische und religiöse Grundfragen wie die nach der Existenz Gottes, nach seiner Gerechtigkeit, dem Sinn des Leidens werden - verbunden mit praktischer Seelenkunde, Soziographie und Gesellschaftsentwürfen - in Handlungen und Erzählweisen präsentiert, die den sakralen Gattungen wie der Heiligenvita bis zu den Genres der Boulevardliteratur, dem Kriminal- und dem Feuilletonroman entstammen.
 
So eindeutig Dostojewskij seine zunehmend konservative, national-christliche, ja chauvinistische Weltsicht in den publizistischen Schriften dargelegt hat, vor allem im »Tagebuch eines Schriftstellers« (1873-81), so ambivalent tritt uns der Autor in den großen Ideengebäuden seiner fiktionalen Werke entgegen. Besonders deutlich wird das Schwanken des Autors zwischen zwei entgegesetzten Positionen in den »Brüdern Karamasow«, die einerseits als eine Theodizee, als Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm zugelassenen Leides, anderseits aber als ein Dokument des Gotteszweifels gelesen werden können und tatsächlich ganz gegensätzliche Rezeptionen erfahren haben.
 
Graf Lew Tolstoi, verbrachte, abgesehen von zwei Reisen nach Westeuropa, sein von 1828 bis 1910 währendes Leben auf dem Gut Jasnaja Poljana und in Moskau und hielt sich nach frühem Kontakt mit den Petersburger literarischen Salons vom Kulturbetrieb der beiden Hauptstädte fern. Sein Werk ging nicht aus der Romantik und der natürlichen Schule hervor, sondern hat seine Quellen im westeuropäischen 18. Jahrhundert, im Ethizismus der Aufklärung, im Antikonventionalismus Rousseaus, im deskriptiven Sentimentalismus Sternescher Prägung.
 
Tolstois Gesamtwerk ist geprägt von der Spannung zwischen Ethik und Ästhetik. Das Schwanken zwischen den beiden Funktionen erklärt einerseits die wiederkehrenden »Krisen« in seinem Lebensweg, die jeweils eine Abkehr von der Belletristik und eine Hinwendung zu nützlicher Tätigkeit, pädagogischer Theorie und moralisch-religiös erbaulichem Schrifttum einleiten, anderseits aber auch immer wieder die Rückkehr zu angespanntester künstlerischer Arbeit. Den Widerspruch in Tolstois Verhältnis zur Kunst beschrieb treffend Thomas Mann, der den Moralismus des »großen Dichters des Russenlandes« eine »Riesentölpelei« nannte: »Dieser wunderliche Heilige nahm es mit der Kunst desto genauer, je weniger er an sie glaubte«. Die Spannung zwischen Ästhetik und Ethik wird auch im Aufbau der belletristischen Werke selbst deutlich, in der Folge von detailreicher Beschreibung und moralischer Verallgemeinerung, im Gegenspiel von Erzählung und philosophischer Reflexion, im Widerstreit von Beobachtung und Didaktik.
 
Von der ersten Tagebuchskizze »Geschichte des gestrigen Tages« (1851) bis zur letzten, unvollendet gebliebenen Erzählung »Hadschi Murat« (entstanden 1896-1904) pflegte Tolstoi die künstlerische Methode der »Verfremdung«. Die verfremdeten »Sachen« können Insignien sein wie das Banner (»ein Stock mit einem Fetzen Stoff«), Symbole wie die Hostie, kulturelle Institutionen wie das Theater, das Gericht, die Kirche oder abstrakte Begriffe wie Tapferkeit oder der Eigentumsbegriff. Immer appelliert das Verfahren, das durch den Blick des Nicht-Eingeweihten motiviert ist, zu einer Revision der Konvention, die als widernatürlich und lebensfeindlich erscheint.
 
Tolstois Antikonventionalismus erweist sich insbesondere an den Leitthemen, die sein Werk durchziehen. Zu ihnen gehören Liebe und Ehe, die vom frühen »Familienglück« (1859) über die ihrem fatalen Ende entgegengehende Ehebrecherin Anna Karenina (1878) bis hin zur düsteren »Kreutzersonate« (1891) mit zunehmend rigoroser Verurteilung der Geschlechterliebe behandelt werden. Nach »Kindheit« (1852), dem ersten Teil der autobiographischen Trilogie, in dem er die verfremdende Beobachtung und Selbstbeobachtung und die verallgemeinernde Reflexion erprobte, gab Tolstoi in den Kaukasus-Erzählungen (1852-53) und in den Sewastopoler Skizzen (1855-56) eine von allen literarischen Schablonen befreite Darstellung des Krieges. Verfremdende Schlachtenbeschreibungen nehmen großen Raum in dem historischen Roman »Krieg und Frieden« (1868-69) ein, und im späten »Hadschi Murat« kehrte Tolstoi zum Kaukasuskrieg zurück. Vom Tod der Mutter in »Kindheit« über die Parabel »Drei Tode« (1859), die eindringlichen Darstellungen des Sterbens Andrej Bolkonskijs (»Krieg und Frieden«) und Nikolaj Lewins (»Anna Karenina«) bis hin zum »Tod des Iwan Ilitsch« (1886) beschäftigte Tolstoi das Thema des Todes, den er als Aufhebung aller Wahrheiten, alles Sinnes fürchtete und dem er zugleich einen Sinn abzuringen suchte.
 
Ungeachtet aller Gegensätze, die zwischen den beiden großen russischen Erzählern Dostojewskij und Tolstoi bestehen, teilen sie den Glauben an die Welt als Ort von Ereignissen und die Veränderbarkeit des Menschen, der zum Überschreiten seiner vom Charakter vorgegebenen und moralischen Grenzen fähig scheint, einen Glauben, dem die postrealistische Moderne, wie sie etwa von Anton Tschechow verkörpert wird, überaus skeptisch begegnet. Eine zweite große Gemeinsamkeit der beiden Antagonisten kann man darin erblicken, dass sie, die allgemein gültige Antworten auf die großen Fragen der Existenz zu geben trachteten, sich in ihrer Erzählkunst letztlich als Zweifelnde und Suchende zeigten.
 
Prof. Dr. Wolf Schmid
 
Literatur:
 
Stender-Petersen, Adolf: Geschichte der russischen Literatur. Aus dem Dänischen. München 51993.
 Tschižewskij, Dmitrij: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 2 Bände. München 1964—67. Band 1 Nachdruck München 1977.


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