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BRAHMS: DER MELANCHOLIKER

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Brahms: Der Melancholiker
 
Geboren wurde Johannes Brahms am 7. Mai 1833 als zweites Kind eines für den Lebensunterhalt der Familie hart arbeitenden Unterhaltungsmusikers, aufgewachsen ist er in kleinbürgerlichen Verhältnissen, im »Gängeviertel«, dem Armenstadtteil der norddeutschen Wirtschaftsmetropole Hamburg, zu seinen prägenden Jugenderfahrungen gehört der Broterwerb als Tanzmusiker.
 
Gestorben ist Brahms am 3. April 1897 als wohlhabender Komponist in einem großbürgerlichen Bezirk der europäischen Musikhauptstadt Wien, begraben wurde er nahe den Ruhe- und Gedenkstätten Mozarts, Beethovens und Schuberts in einem Ehrengrab des Wiener Zentralfriedhofs, zu Grabe getragen mit einem öffentlichen Trauerzug, der nach Umfang und Anteilnahme der Bevölkerung nur von der Beisetzung Kaiser Franz Josephs übertroffen wurde. In diesen Eckpunkten des brahmsschen Lebens spiegelt sich der beispiellose Aufstieg eines bürgerlichen Musikers wider, eine Musterkarriere gemäß den Wertsetzungen des optimistischen 19. Jahrhunderts. Strenges professionelles Arbeitsethos, Fleiß, Zielstrebigkeit, Sparsamkeit und effektive Vermögensbildung führten diesen Aufstieg herbei. Er umfasst sowohl die wirtschaftliche Situation des Komponisten, seine soziale Stellung und sein gesellschaftliches Prestige, wie schließlich die öffentliche Geltung seiner Werke.
 
 Lebenslauf: Von Hamburg nach Wien
 
Das äußere Leben des Johannes Brahms ist rasch erzählt.Seine Jugend, die Jahre der Ausbildung als Musiker (Klavierunterricht ab 1840 bei Friedrich Wilhelm Cossel, ab 1843 Klavier und Komposition bei dem anerkannten Komponisten und Pädagogen Eduard Marxsen, der ihn die klassischen Muster lehrte) verbrachte er in und um Hamburg. 1853 begannen Brahms' »Wanderjahre«. In Hannover entstand eine lebenslange Freundschaft mit dem hochbedeutenden Geiger und späteren Berliner Hochschuldirektor Joseph Joachim. In Weimar traf er Franz Liszt und seinen Kreis; die Zusammenkunft legte den Grund für seine entschiedene Ablehnung der neudeutsch-programmatischen Ästhetik. Und am Ende einer Rheinreise schloss er in Düsseldorf Freundschaft mit dem Ehepaar Clara und Robert Schumann — menschlich und künstlerisch die bedeutsamste Begegnung seines Lebens.
 
Nach Schumanns Selbstmordversuch im Februar 1854 lebte Brahms für mehrere Jahre als helfender Freund bei der geliebten Clara Schumann in Düsseldorf. Er selbst nannte diese Jahre seine »Wertherzeit«. Ab 1857 pendelte er einige Jahre zwischen Hamburg (Dirigent eines Frauenchores bis 1861) und Detmold (Leiter des Hofchores und Hofpianist bis 1859). 1860 wurde ein von Brahms, Joachim und anderen Freunden geplantes Manifest gegen die publizistische Vormachtstellung der »neudeutschen Schule« Liszts durch eine Indiskretion vorab veröffentlicht und blieb daher ein kunstpolitischer Fehlschlag. Im September 1862 reiste Brahms zum ersten Mal nach Wien, wo er erfolgreich konzertierte und mehr und mehr ansässig wurde, bis er die Kaiserstadt 1869 endgültig zum ständigen Wohnsitz machte. 1863 wurde er zum Chormeister der Wiener Singakademie gewählt; diese Position hielt er für ein Jahr. 1865 lernte Brahms den Maler Anselm Feuerbach kennen, dessen idealisierender Klassizismus ihn zutiefst ansprach. Der Karfreitag 1868 brachte die Premiere des Deutschen Requiems im Bremer Dom. Dieses Konzert, sein überwältigendes Echo und die große Zahl von Folgeaufführungen bedeuteten den endgültigen Durchbruch zu europäischer Geltung. Die 1870er- bis 1890er-Jahre sind dann Dezennien des Ruhms.
 
Zwei Konstanten sind für Brahms' Leben seit den 1860er-Jahren charakteristisch: einmal die vielen Konzertreisen, die er zunächst primär aus finanziellen Gründen unternahm, deren enger Radius aber Österreich/Deutschland samt Nachbarländern nie überschritt. Zunächst reiste vor allem der Pianist Brahms, wobei das Repertoire über das eigene Oeuvre hinaus Bach, Beethoven, Schubert und Schumann einschloss.
 
Als seit der Mitte der 1870er-Jahre eigene große Orchesterwerke vorlagen, trat der reisende Pianist zugunsten des Dirigenten zurück. Diese Konzertreisen fanden vor allem in den Herbst- und Wintermonaten statt. Das berührt die andere Konstante in Brahms« Jahreslauf: Der Sommer wurde an Naturschauplätzen verbracht, vorzüglich in den Alpen, und diente primär dem Komponieren.
 
Die Teilung der Künstlerexistenz zwischen der winterlichen Stadtsphäre des Broterwerbs und der sommerlichen Naturwelt als Garantin schöpferischer Freiheit ist eine typische Denkform des 19. Jahrhunderts, nach Brahms hat sie vor allem Gustav Mahler praktiziert. 1871 zog Brahms in die Wohnung Karlsgasse 4: zwei, später drei moderate Zimmer mit der aus Fotos bekannten bürgerlichen Einrichtung, dem Stehpult fürs Komponieren, den Reproduktionen der Sixtinischen Madonna und der Mona Lisa sowie der Beethoven-Büste über dem Klavier. Von 1872 bis 1874 war er Dirigent der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde Wien. Zwischen 1879 und 1893 unternahm er neun Italienreisen, die in typischer Weise Bildung und das Erlebnis südlichen Lebens verbanden. 1881 entstand durch die Vermittlung des befreundeten Dirigenten Hans von Bülow eine enge Beziehung zu dem kleinen Fürstentum Meiningen und seinem Orchester, das ihm nun auch zum »Ausprobieren« zur Verfügung stand. In den Jahren des Ruhms häuften sich die Ehrungen, unter denen der Ehrendoktor der Universität Cambridge (1876 angetragen, aber wegen der Weigerung, nach England zu reisen, nie verliehen), der Ehrendoktor der Universität Breslau (1879), der Orden »Pour le Mérite« (1887) und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hamburg (1889) herausragen.
 
Die Neunzigerjahre sahen die späte Freundschaft mit dem künstlerisch wahlverwandten Berliner Maler Adolf Menzel, 1894 erschien die Brahms-Phantasie von Max Klinger, ein um brahmssche Lieder zentrierter grafischer Zyklus. Aber diese Jahre nährten auch verstärkt den Gedanken an den Tod. Nahe Freunde starben, zuletzt 1896 Clara Schumann. Bei Brahms wurde Leberkrebs diagnostiziert. Die letzten Jahre seines Lebens und Schaffens hat er mit vollem Bewusstsein als ein Enden gestaltet. Er machte sein Testament, räumte sein Kompositionspult auf, und er schrieb seine letzten Werke als solche. 1894 publizierte er seine letzte Sammlung von Volksliedbearbeitungen, die auch das Lied Verstohlen geht der Mond auf enthält, das Brahms ganz am Anfang seiner Karriere, im langsamen Satz der Klaviersonate op. 1, benutzt hatte. An den Verleger Simrock schrieb er dazu: »Das letzte der Volkslieder und dasselbe in meinem op. 1 stellen die Schlange dar, die sich in den Schwanz beißt, sagen also hübsch symbolisch — dass die Geschichte aus ist.« Am 7. März 1897 besuchte Brahms sein letztes Konzert im Wiener Musikvereinssaal, sichtlich vom Tode gezeichnet und von Musikern und Publikum mit Ovationen verabschiedet.
 
 Bindungen
 
Brahms hatte viele enge und treue Freunde. Und trotzdem war eine seiner hervorstechenden Charaktereigenschaften die Unfähigkeit, dauernde Bindungen einzugehen. Dieses Sich-Verweigern hatte sowohl eine professionell-institutionelle wie eine persönliche Dimension. Obwohl ihm mehrere, zum Teil bedeutende, feste Positionen im deutsch-österreichischen Musikleben angeboten wurden (z. B. 1878 Thomaskantorat Leipzig), hat Brahms sie entweder sofort abgelehnt oder nach kurzer Amtsdauer wieder verlassen (Detmold 1857—59, Wien 1863—64 und 1872—74).
 
Einer der Hauptgründe war stets die vorrangige Konzentration auf das Komponieren — der Künstler Brahms fühlte sich zur kompositorischen Arbeit verpflichtet. Und selbst wenn Brahms im Falle der zweifachen Nichtberufung auf einen Dirigentenposten seiner Vaterstadt Hamburg (1862 und 1867) sich tief getroffen gab, so bleibt doch zweifelhaft, ob er selbst dort eine Dauerposition durchgehalten hätte.
 
Andererseits diente ihm das Fehlen der festen Anstellung als (Schein)argument im privaten Bereich: »Zweimal hat man. .. mich übergangen. Hätte man mich zu rechter Zeit gewählt, so wäre ich ein ordentlicher bürgerlicher Mensch geworden, hätte mich verheiraten können und gelebt, wie andere. Jetzt bin ich ein Vagabund« (1878).
 
In wohl fünf Fällen hat Brahms eine enge, dauernde Bindung an eine Frau erwogen, vermutlich mit dem Gedanken an eine Ehe gespielt: Zunächst war es um 1856—57 Clara Schumann; im Sommer 1858 die Göttinger Professorentochter Agathe von Siebold, die mit ihr eingegangene Verlobung löste Brahms schon 1859 wieder auf. Später haben ihn Elisabet Stockhausen von Herzogenberg (nach 1863/64), Claras Tochter Julie Schumann (1869) und die Sängerin Hermine Spies (ab 1883) tief beeindruckt, dennoch hat er sich in keinem Fall zu einer Erklärung durchringen können.
 
Der tiefere Grund für solche Unfähigkeit, feste Bindungen einzugehen, kann in einer psychischen Disposition zur Melancholie gesehen werden. Der Melancholiker Brahms kultivierte die innere Verpflichtung des Künstlers zur Einsamkeit, die mit einem ganzen Bündel defensiver Strategien verteidigt wurde, deren permanente Reflexion aber gleichzeitig Bitterkeit und Ironie produzierten. Andererseits bedeuteten Isolation und das Leiden an der Einsamkeit für den Künstler des 19. Jahrhunderts eine Auszeichnung, waren ein Moment künstlerischer Legitimation.
 
 Herkunft
 
Vater Johann Jacob Brahms stammte aus einer schleswig-holsteinischen Familie von Händlern und Handwerkern, wurde als »Stadtmusikus« ausgebildet, erwarb einen regulären Lehrbrief und begann als Tanzmusiker in Kneipen des Hamburger Hafenviertels, arbeitete sich zielstrebig hoch und wurde noch Kontrabassist im Philharmonischen Orchester. Seine 17 Jahre ältere, lebenskluge Frau Christiane wusste in der finanziell beengten Sphäre des brahmsschen Hausstands den drei Kindern charakterliche Bildung und Erziehung zum Leben zu vermitteln, die sich zutiefst bewährten, als das mittlere Kind Johannes den elterlichen Lebensraum weit überstieg, ohne dass der Erfolgreiche diese Herkunft je missachtet oder verleugnet hätte. Die frühe Konfrontation mit dem Ernst, wenn nicht dem Elend der Brotarbeit des Unterhaltungsmusikers muss eine prägende Lebenserfahrung gewesen sein, sie dürfte jene Charakterzüge bestärkt haben, die als typisch für Brahms gelten: Lebensernst, Verschlossenheit, Skepsis und Neigung zum Grübelnd-Problematischen, Sarkasmus und Grobheit bis zur Unhöflichkeit.
 
Andererseits begegnete Brahms hier einem Praxisbereich, den ein Musiker großbürgerlicher Herkunft nie in solcher Konkretheit erlebt hätte: dem Popularen nämlich, also der — in der Sprache des 19. Jahrhunderts — »unteren« Musik seiner Zeit. Das hat ihn sichtlich davor bewahrt, diese Sphäre der Walzer, Märsche, Polkas und Mazurken je gering zu schätzen, im Gegenteil: Seine lebenslange Affinität zur Volksmusik im weitesten Sinn, die Versuche, sie durch Bearbeitungen und benutzende Integration mit der Kunstmusik zu versöhnen, fanden auch hier ihre nachhaltige Motivation. Es gab für Brahms nicht zwei getrennte musikalische Welten, sondern nur einen einzigen Kosmos, der zwischen »Hohem« und »Niederem« nicht prinzipiell, sondern nur graduell unterschied. Die Liebeslieder-Walzer und die Ungarischen Tänze sind Zeugen.
 
 »Dauerhafte Musik«
 
Diese väterliche Sphäre des städtischen Berufsmusikers mit ihrer zunftmäßigen Orientierung lebt fort in der handwerklichen Ethik des Musikdenkens des Sohns. Der brahmssche Begriff von Musik hat eine deutlich praktische Ausrichtung. Das ist gerade im 19. Jahrhundert mit dem Einfluss Hegels auf die Ästhetik eine Außenposition. »Dauerhafte Musik« nannte Brahms das, was er künstlerisch erstrebte: ein skeptischer Ersatz für die emphatische Idee einer »absoluten Musik«, die das Musikdenken der nachklassischen Zeit vor allem in Deutschland bestimmte. Wie das Adjektiv »dauerhaft« belegt, kultivierte Brahms die Vorstellung einer zeitlosen oder überzeitlichen Qualität »großer« Kunst. Sie war ihm garantiert in der unverwechselbaren Gestalt des durchgeformten individuellen Werks, das als kleiner Kosmos in sich selbst ruhend gedacht wird und so »Welt« bedeutet. Gediegenheit, Solidität, Durchkonstruktion, formale »Logik« und Ausgewogenheit, Einheit in der Mannigfaltigkeit — das wären Bestandteile und Garanten solcher »Dauer«.
 
Für Brahms realisiert sich dies durch Berufung auf Tradition, das heißt konkret durch die Anwendung und Weiterentwicklung der Wiener »klassischen« Prinzipien: der »musikalische Gedanke« als das Verhältnis der primären Tonhöhe zur Zeit (Metrum, Rhythmus); Dynamik und Klangfarbe als sekundäre Parameter; Sonate, Variation und Lied sind zentrale Formen; reich gestufte harmonische Tonalität, thematisch-motivische Durchdringung und kontrapunktische Kontrolle des Tonsatzes sind Integrationsfaktoren. Brahms' Musik kennt nicht das radikale Umschlagen, die unvermittelten Einbrüche oder Entladungen. Sondern es geht um die Verbindung der Gegensätze durch stufenweise, quasi logische Veränderungen, um Vermittlung selbst der äußersten Kontraste. Seine Sinfonik zum Beispiel reißt nicht den Abgrund auf wie Schuberts Unvollendete im 1. Satz nach dem abrupten Bruch des lyrischen Singens der Streicher, sondern sie verbirgt ihn, wie am Beginn und Ende des 1. Satzes der 2. Sinfonie, als Tiefendimension eines scheinbar gesicherten Tonsatzes, gestaltet ihn hintergründig als Strukturverschiebung oder Störung, verdeckt die Brüche durch allseitige Konstruktion. Seine Auffassung des Komponierens als »unaufhörliche Arbeit« transformiert den Inbegriff protestantischer Ethik, der als goethescher Spruch vom Erbe der Väter, das man zu erwerben habe, um es zu besitzen, im bürgerlichen Wohnzimmer zu hängen pflegte (mit dem pflügenden Landmann, in Silber gepresst), in eine künstlerische Maxime.
 
 Musikgeschichtlicher Ort
 
Zeigt der Begriff »dauerhafte Musik«, dass Brahms Kunst nicht geschichtlich, sondern normativ verstand, so hatte Brahms doch ein außergewöhnliches Interesse an der Geschichte der Musik, genauer: an ihren Meisterwerken. In dieser Akzentuierung war er ein typischer Zeitgenosse seines historischen Jahrhunderts. Als Interpret und Konzertveranstalter führte er Werke »alter Meister« in großer Zahl und ohne Rücksicht auf den Zeitgeschmack auf. Als Pianist ging er bis Bach zurück. Die von ihm dirigierten Wiener Chor- und Orchesterkonzerte der Jahre 1863—64 und 1872—75 enthielten nicht nur regelmäßig Werke von Bach und Händel, sondern auch Kompositionen von Eccard, Gabrieli, Schütz, Lasso, Palestrina — um nur einige Namen zu nennen. Nach 1853 hat er selbst das Studium der alten Musik, vor allem des Kontrapunkts (auch Fuge, Kanon, Variation) intensiv betrieben. Und daher haben neu durchdachte alte Formen und Techniken Eingang in seine eigenen Werke gefunden; die berühmte Passacaglia als Schlusssatz der 4. Sinfonie ist nur ein Beispiel.
 
Im September 1895 fand in Meiningen ein Musikfest statt, das gleichsam symbolisch Brahms seinen historischen Ort zuwies (und zugleich eine These über seinen Rang aufstellte). Das Fest enthielt ausschließlich Werke von Bach, Beethoven und Brahms: In der Formel der »drei großen B«, der Aufnahme noch zu Lebzeiten in eine als klassisch begriffene Trias (einer zweiten neben den drei Wiener Klassikern) kulminiert das Schaffen des Johannes Brahms. In der Tat: Die Herkunft aus der »Wiener Tradition«, das betonte Sicheinstellen in diese historische Konstellation, ist offenkundig. Brahms ist in diesem Sinne Klassizist, mit deutlich konservativen Zügen. Und die Berufung auf Bach als den zweiten Bezugspol neben Beethoven trifft, wie gesagt, für den geschichtlich orientierten Komponisten ein wesentliches Moment seines Selbstverständnisses. Nach Beethoven sind es vor allem Schubert und Schumann, die für Brahms prägend wurden. Das Liedverständnis Brahmsens kommt nach Form und Textbehandlung deutlich von Schubert (auch von Mendelssohn) und nicht von Schumann her, was ihn in striktesten Gegensatz zum psychologisierenden Liedideal seines Zeitgenossen Hugo Wolf bringt. Der Einfluss Schumanns ist vor allem in den Sinfonien und der Kammermusik greifbar. Und das Verhältnis Brahms/Wagner war zwiespältig. Sowohl ästhetisch-kompositorisch wie in ihrem Geschichtsverständnis waren sie eindeutig Gegensätze. Dabei hat Brahms das kompositorische Ingenium Wagners durchaus anerkannt, den Ästheten und Kunstpolitiker jedoch lehnte er scharf ab. Für die Zeitgenossen war der in Brahms und Wagner personifizierte ästhetische Gegensatz von Klassizismus und Neudeutscher Schule eine historische Gegebenheit, die das gesamte Musikleben prägte und spätestens seit dem missglückten 1860er-Manifest der Brahmspartei auch eine kulturpolitische Dimension besaß. Arnold Schönberg hat die Wiener musikgeschichtliche Situation um 1900 als in eine brahmssche und eine wagnerische Komponente polarisiert gesehen (mit Eduard Hanslick und Hugo Wolf als ihren publizistischen Protagonisten und den sinfonischen Antipoden Brahms und Bruckner), und er hat seine eigene geschichtliche Leistung als eine Zusammenführung und Versöhnung beider Richtungen begriffen. Und Schönberg war es auch, der den ästhetischen Konservatismus des Strukturkomponisten Brahms als Wegbereiter seiner eigenen Moderne verstand und die Formel »Brahms the Progressive« prägte.
 
 »Neue Bahnen«
 
1853 war das lebensentscheidende Jahr für Brahms. Von eingreifender Wirkung wurde Robert Schumanns enthusiastische Reaktion auf Brahms' Kompositionen. Schumann vermittelte die Veröffentlichung von Brahms' ersten Kompositionen. Seine folgenreichste Handlung aber war, Brahms als einen jungen Komponisten von bereits außergewöhnlicher Statur öffentlich zu propagieren. Schumanns panegyrische, romantische Bilder und eine religiös überhöhte Sprache nutzender Text erschienen am 28. Oktober 1853 unter dem Titel Neue Bahnen in der einflussreichen Neuen Zeitschrift für Musik. Das war gewiss uneigennützig als eine Aktion zugunsten des jungen Freundes gedacht, hatte aber doch eine kunstpolitische Zielsetzung, wollte den Weg in die Zukunft, den der als Messias Gepriesene garantieren sollte, für den eigenen Zirkel reklamieren.
 
Diese parteiische Vereinnahmung von höchster Stelle hat den Anfang der Komponistenlaufbahn des Johannes Brahms ebenso belastet wie der fast unerfüllbare ästhetische Anspruch, der hier an seine frühen Werke gestellt wurde. Konnte sich Brahms zwar in seinem Selbstbewusstsein als Komponist außerordentlich bestärkt fühlen, so war die ihm von Schumann aufgebürdete Last der frühen Meisterschaft zugleich geeignet, seine Skrupel und seine Selbstkritik nur noch zu erhöhen. Diese Selbstzweifel waren ohnehin von Beginn an außergewöhnlich. Und so ist denn auch Brahms' künstlerischer Weg von Fragmenten, verworfenen Werken und vernichteten Manuskripten geradezu gesäumt. Fast alle Jugendwerke hat er zerstört. Und als die Kritiken der erstpublizierten Opera 1—7 die Diskrepanz von schumannschem Anspruch und brahmsscher Einlösung schonungslos aufdeckten, zog sich Brahms erneut in sich selbst zurück. Ein erneutes und verstärktes Bemühen um das musikalische Grundhandwerk setzte ein, kontrapunktische Übungen wurden gemacht, Stücke im alten Stil geschrieben, die Integration der neu oder wieder erarbeiteten Techniken in aktuelle Kompositionen wurde gepflegt. Erst die späten 1850er- (mit dem Detmolder Engagement) und dann endgültig die 1860er-Jahre brachten die Stabilisierung des Metiers. Das betrifft zum einen das Erreichen einer höheren Stufe im Komponieren von Kammermusik: Die Händel-Variationen op. 24 für Klavier und die beiden Klavierquartette op. 25 und 26, alle mit 1861 datiert, sind Beispiele einer ersten Meisterschaft. Es ging aber entscheidend um die Annäherung an die große Chor- und Orchesterkomposition.
 
 »Die Mächte der Massen«
 
So betraf ein von Schumann im Neue-Bahnen-Artikel diskret angesprochenes Defizit die offenbare Tatsache, dass Brahms bis dahin auch als Komponist ein reiner Kammermusiker war. Die Eroberung der »Mächte der Massen«, der groß dimensionierten Werke und Formen für Chor und/oder Orchester, wurde ihm ausdrücklich als Verpflichtung auferlegt. Dies löste ein Ringen vor allem um die Sinfonie als der höchsten musikalischen Kunstform des bürgerlichen Jahrhunderts aus, das erst 1876 mit der Uraufführung der 1. Sinfonie sein Ziel fand — ein Weg von mehr als zwanzig Jahren also, von immer neuen Selbstzweifeln und Zurücknahmen unterbrochen, aber doch mit hartnäckiger Konsequenz verfolgt. Bereits 1854 wollte Brahms den ersten Satz einer konzipierten Sonate für zwei Klaviere in d-Moll zu einer Sinfonie umarbeiten; am Ende aber genügte der Satz dem gestrengen Anspruch an eine Symphonie nicht; die »verunglückte Sinfonie« (Brahms an Clara, 5. Februar 1855) wurde 1856 das 1. Klavierkonzert op. 15. Bis 1863 scheiterten mehrere weitere Versuche, eine Sinfonie zu vollenden. In den 1860er-Jahren dann verfolgte Brahms eine andere Strategie auf dem Weg zur großen Orchesterkomposition, die mit den praktischen Erfahrungen als Chordirigent in Detmold, Hamburg und Wien zusammenging: Er komponierte Werke für Chor und Orchester. Seit 1863 arbeitete er an der Kantate Rinaldo op. 50 (vollendet 1868) seit Herbst 1864 galt die Hauptarbeit dem Deutschen Requiem. Mit diesem Werk erfüllte Brahms erstmals Schumanns Direktive, die »Mächte der Massen« beherrschen zu lernen. Es war also nicht die reine Instrumentalkomposition, mit der Brahms das über mehr als ein Jahrzehnt hin angestrebte Ziel erreichte, sondern das Vokalwerk mit großem Orchester. Und in den folgenden Jahren setzte er die Erkundung dieses Bereichs mit der Alt-Rhapsodie op. 53 (1869), dem Triumphlied op. 55, und dem Schicksalslied op. 54 (1871) fort. Gleichzeitig intensivierte er die Arbeit an der intimen Gattung Streichquartett, seit Haydn für die Wiener Tradition der Prüfstein kompositorischer Meisterschaft und schon seit dem frühen 19. Jahrhundert in seiner Funktion als Wegbereiter der großen Form und des großen Orchesterapparates gesehen. 1873 erfolgten dann die entscheidenden Schritte. Die beiden Streichquartette op. 51 erreichten nach vielfachen Überarbeitungen einen kompositorischen Stand, den der gestrenge Brahms für gültig erachten konnte; im selben Sommer entstanden die Haydn-Variationen op. 56, deren Fassung für großes Orchester jene Souveränität in der Orchesterbehandlung erbrachte, die den Weg zur Sinfonie nun endgültig freilegte. 1876 endlich wurde die 1. Sinfonie c-Moll op. 68 beendet. 1877 bereits folgte die Zweite, das D-Dur-Schwesterwerk, die das Violinkonzert von 1878 nach sich zog. Ein Jahrzehnt lang, bis 1887, schrieb Brahms nun in regelmäßiger Folge große Orchesterwerke: das zweite Paar der Sinfonien, das 2. Klavierkonzert, das Doppelkonzert und die beiden Ouvertüren. Der Gattung Oper jedoch versagte er sich zeitlebens.
 
 Beethoven
 
Die Schwierigkeit des Weges zur Sinfonie (wie auch zum Streichquartett) hat aber auch mit der historisch »späten« Position Brahmsens zu tun, jenem Komponieren »nach Beethoven« im Wortverstand, das so viele Musiker des 19. Jahrhunderts (Schubert, Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Wagner. ..) zugleich anspornte und lähmte. Gleichsam programmatisch begann der junge Brahms seine öffentliche Karriere mit einem Beethovenzitat: Der Anfang der Klaviersonate op. 1 bezieht sich in doppelter Brechung thematisch auf Beethovens Hammerklavier-Sonate op. 106 und harmonisch auf dessen Waldstein-Sonate op. 53. Dabei geht es Brahms sowohl um das Anerkennen der fast übermächtigen Beethoventradition wie um die Behauptung des eigenen Platzes. Er zitiert Beethoven und übersteigert ihn zugleich, knüpft an Beethoven an und setzt sich von ihm ab. Das Hauptthema des Schlusssatzes von Brahms' 1. Sinfonie ist überdeutlich eine Anspielung auf Beethovens Freude-Hymnus aus der Neunten (Brahms: »Jeder Esel hört das!«). Am Beginn der Reprise und in der Coda von Brahms' Finale aber, dort wo das Freude-Thema triumphal wiederkehren sollte, wird es durch Alphornruf und Choral betont ersetzt. Das optimistische Freiheitspathos des beethovenschen Menschheitsentwurfs weicht so im späten 19. Jahrhundert der Berufung auf die überzeitlichen Mächte von Natur und Religion. Zu solcher politisch skeptischen Gegenwartsdiagnose passt, dass Brahms' Sinfonien im Kern kammermusikalisch durchgebildet sind — eine in der konzentrierten Arbeit am Detail nach innen gekehrte Musik. Sind Beethovens Sinfonien, als künstlerische Realisationen der großen Ideen der Französischen Revolution im Medium der Musik, dezidiert Reden an die Menschheit, so wenden sich die Sinfonien von Brahms an den isoliert introvertierten Einzelnen in der Menge, realisieren musikalisch bereits jene »Zurücknahme« der beethovenschen Neunten, die Jahrzehnte später Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus den Komponisten Adrian Leverkühn als kulturpolitisches Manifest verkünden lässt. Der späte Skeptiker Brahms ist der wahre Zeitgenosse seiner Gegenwart.
 
 Politik
 
Brahms war ein glühender Verehrer Bismarcks mit antifranzösischem Ressentiment. Den deutschen Sieg über Frankreich und die Kaiserproklamation von 1871 feierte er mit dem Triumphlied op. 55. Und die Fest- und Gedenksprüche op. 109 beziehen sich in der ideologischen Zusammenstellung biblischer Texte auf das Dreikaiserjahr 1888. Brahms selbst hat auf ihre politische Zielrichtung hingewiesen: »Es sind drei kurze hymnenartige Stücke. .., die geradezu für nationale Fest- und Gedenktage gemeint sind und bei denen recht gern gar ausdrücklich die Tage Leipzig, Sedan und Kaiserkrönung angegeben sein dürften. (Doch besser nicht!)«. Politisch war Brahms ein Liberaler, als Protestant im katholischen Wien mit kräftigem antiklerikalem Impuls. Das Enden der Vormachtstellung des liberalen Bürgertums und das Aufkommen der pangermanischen Tendenzen im Wien der 1890er-Jahre sah er mit großer Sorge und zunehmender Verunsicherung. Der politischen Erfahrung einer endenden Epoche entsprach eine ähnlich skeptische Diagnose für den Bereich der Kunst. Beides scheint in den späten Kompositionen gespiegelt.
 
 Spätwerk
 
Diese späten Werke gehorchen dem goetheschen Diktum vom »Zurücktreten aus der Erscheinung«, sie bedeuten eine Welt des Sichzurücknehmens, der Verinnerlichung, Resignation und Melancholie. In den 1890er-Jahren hat Brahms keine Orchestermusik mehr geschrieben, er versenkt sich in Kammermusik, lyrische Klavierstücke, Lieder und Orgelchoräle. Genuinen Ausdruck findet der dunkle späte Ton in der singulären Kammermusik mit Klarinette, deren Komposition sich der Inspiration durch den eminenten Meininger Klarinettisten Richard Mühlfeld verdankt. Zentral ist das Klarinettenquintett h-Moll op. 115 von 1891. Daneben werden 1892—93 die Sammlungen op. 116—119 der Charakterstücke für Klavier vollendet. Hauptwerk des letzten Schaffensjahres sind die Vier ernsten Gesänge op. 121, Brahmsens späte, mild versöhnliche Antwort mit Bibeltexten an Schopenhauers Pessimismus. Das letzte Wort hat 1896 die Orgel, mit dem Choralvorspiel O Welt, ich muss dich lassen am Ende. Über die individuelle psychische Disposition hinaus (deren Grund bereits in der schweren Jugend gelegt wurde) kann man das auffällige Beschwören der Melancholie beim späten Brahms in zwei Begründungszusammenhängen vermuten. Da ist erstens die erwähnte politisch-soziale Krise, die Verunsicherung durch die Entmachtung des liberalen Bürgertums, spürbar vor allem im offenbaren Zerfall des Habsburgerreichs und zentriert in der kollektiven Psyche Wiens. Das schließt zweitens eine künstlerische Zeitdiagnose ein: Brahms' Kulturpessimismus, im engeren Bereich seine Sorge um die Zukunft der Musik, wie er sie als Traditionshüter sehen wollte, eine konservativ-bewahrende Skepsis, die jedoch ein verstärktes »strukturelles« Komponieren hervorbrachte und gerade damit paradoxerweise der anbrechenden Moderne den Boden bereitete. Es ist dieser nachdenklich-melancholische, der »heiße, dunkle, tiefe Brahms« Ernst Blochs, der sein Zeitalter skeptisch als ein endendes summierte und damit doch zur Zukunft hin öffnete.
 
Reinhold Brinkamm
 
Literatur:
 
»... in meinen Tönen spreche ich.« Für Johannes Brahms 1833-1897, herausgegeben von Jürgen Neubacher und Jochen von Grumbkow. Ausstellungskatalog Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg Heidelberg 1997.
 Schaefer, Hansjürgen: Johannes Brahms. Ein Führer durch Leben und Werk. Berlin 1997.
 Boeck, Dieter: Johannes Brahms. Lebensbericht mit Bildern u. Dokumenten. Kassel 1998.
 Neunzig, Hans A.: Johannes Brahms. Reinbek 83.-87. Tsd. 1998.
 Schmidt, Christian Martin: Johannes Brahms und seine Zeit. Laaber 21998.
 
The Cambridge companion to Brahms, herausgegeben von Michael Musgrave Cambridge 1999.
 Schmidt, Christian Martin: Brahms-Symphonien. Ein musikalischer Werkführer. München 1999.


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