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FIN DE SIÈCLE: ENDZEITGEFÜHLE

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Fin de Siècle: Endzeitgefühle
 
1893 erschien der Roman »Müde Seelen« des Norwegers Arne Garborg in deutscher Sprache. Die Übersetzerin Marie Herzfeld umriss Aspekte und Gründe für jenes Endzeitgefühl, das der Begriff »Fin de Siècle« in sich birgt: »... dies Jahrhundert der Revolution, das den Sturz des Absolutismus, den Sieg des Bürgertums und das Heranwachsen der Sozialdemokratie erlebte; dies Jahrhundert der Kritik und Wissenschaft, das unsere Ideen von Gott und Welt über den Haufen warf und uns gebot, von unten anzufangen; dies Jahrhundert der Erfindungen, welches das Tempo unseres Lebens verzehnfachte und unsere Körperkraft wohl kaum verdoppelte;. .. - es hat uns. .. müde gemacht. .. aus dem Brutherd des Unbewussten brechen Handlungsreize, die wir nicht deuten können und als toll bezeichnen,. .. - sie erzeugen aufgeregte, überlebendige Paradoxie einerseits, apathische Mutlosigkeit und Weltverzweiflung andererseits: das Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-gehens - Fin-de-Siècle-Stimmung.«
 
»Fin de Siècle« bedeutet nicht nur »Jahrhundertende«, sondern auch ein apokalyptisches, in jahrhundertealten theologischen Traktaten und Disputen immer wieder beschworenes »Ende der Welt«. Ausgangspunkt dieses neuen, morbiden Empfindens ist, wie schon die Epochenbezeichnung verrät, Frankreich. Hier bündeln sich alle jene Entwicklungen, die Literatur, Musik und bildende Künste in England, Deutschland und Österreich-Ungarn, in Italien, Spanien, Portugal und Teilen Lateinamerikas, in Russland, Polen und der Slowakei mit unterschiedlicher Intensität prägen werden.
 
Historisch-politisch fallen in die letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts einschneidende und auch für das 20. Jahrhundert folgenreiche Ereignisse: Die großen Nationalstaaten entdeckten die Kolonien als ökonomisch attraktiven Zugewinn. Frankreich zum Beispiel versuchte, seine Niederlage von 1871 durch territoriale Annektionen in Indochina und Nordafrika wettzumachen, wäre darüber aber zum Ende des Jahrhunderts fast in einen Krieg mit England geraten. Italien, Spanien und Portugal bekamen die negativen Seiten des Imperialismus gleich zu spüren: Die Italiener mussten nach schweren Niederlagen Abessinien seine uneingeschränkte Souveränität zurückgeben, die Spanier verloren Kuba, nachdem ihre veraltete Flotte den modernen Kriegsschiffen der Amerikaner nicht standhalten konnte, und die Portugiesen wurden von den Engländern gezwungen, bestimmte territoriale Interessen in Ostafrika aufzugeben. Doch auch innenpoltisch waren diese Jahrzehnte von wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Erschütterungen charakterisiert, die sich auf das intellektuelle und künstlerische Leben der einzelnen Länder auswirkten. Dem Erstarken des Sozialismus und der Arbeiterbewegung in der Folge einer ständig zunehmenden Industrialisierung stand die Verhärtung national-konservativer bis reaktionärer Positionen gegenüber. Auf den besonders im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn verbreiteten Antisemitismus, aber auch auf die Dreyfus-Affäre in Frankreich reagierte spätestens seit 1896 Theodor Herzls zionistische Bewegung mit dem Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu begründen.
 
Das äußere Chaos, die zunehmende Unübersichtlichkeit aller Wirklichkeitserscheinungen bringen neue innere Ängste hervor. Arne Garborg drückt sie in seinem Roman »Müde Seelen« so aus: »Fin de Siècle, fin de Siècle. Fin de la culture européenne. Schwarzfäustige Proletarier stürzen die Vendômesäule, verbrennen Notre-Dame, brechen im Louvre ein und verwandeln mit flinkem Hammer die Venus von Milo in Pochgestein. .. an allen Straßenecken arbeitet die Guillotine wie ein Stampfwerk. Denn alle müssen sterben, deren Hände weiß und deren Nasen zu fein sind für den Duft von Petroleum, Fusel und den Schweiß des Volkes. - Ich lasse mich guillotinieren!«
 
Aber die Gründe für diese Ängste sind profunder, existenzieller. Sie sind Konsequenz einer Form der Infragestellung des Individuums im aberwitzigen, immer wieder auch von neuen Techniken zu anderen Horizonten geführten Wechsel der Zeiten: Jahrhundertelang hatte etwa die bildkünstlerische oder sprachliche Fixierung der Wirklichkeit das mediale Bewusstsein des Menschen geprägt. Doch nun vermag seit Niepce, Daguerre und Talbot die Chemie Abbilder von Mensch und Gegenständen dauerhaft, »lichtschreibend«, das ist »fotografisch«, zu bannen, und mit den Brüdern Emil und Max Skladanowsky, mit Auguste und Louis Lumière beginnt die Kinematographie, die »Bewegungsschrift«, aus der das »Kino« wird. Und was für eine ungeheure Veränderung des bis dahin gültigen Umgangs des Bewusstseins mit der Wirklichkeit bedeutet das Haltbarmachen des Flüchtigsten, des nur einmal Gehörten und dann der Willkür der Erinnerung ausgesetzen Wortes, der einzigartig klingenden Stimme, mit dem »Tonschreiber«, dem »Phonographen«, dem späteren »Grammophon«. Für diese technischen Neuerungen bleibt aufgrund ihres total anderen Umgangs mit Wirklichkeit nur der metaphorische Verweis auf den alten, gesicherten Vorgang des Schreibens, mit dem man sich dem gegenständlich Erfahrbaren traditionell genähert hatte. Ihre Andersartigkeit zerbricht Überlieferungen und bis dahin gültige Möglichkeiten der Welterfassung, eröffnet der Literatur zugleich jedoch auch unbekannte Wege und Techniken, wie sie sich in einzelnen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts vielgestaltig entfalten werden.
 
Die Verfahren, seelische Abläufe zu erklären, sind ebenfalls der herrschenden Wissenschaftsgläubigkeit verpflichtet. Der Einzelne wird physiologisch erschliessbares Schauobjekt bei Charcot oder rational beschreibbares Bündel psychologisch erklärbarer Verhaltensweisen bei Freud: Innenräume der Psyche werden so zu hell erleuchteten Laboratorien, in denen Schatten einfach durch bessere Lichtverteilung vermieden werden können. Naturwissenschaft und Positivismus reduzieren den Menschen nach der Entwicklungslehre Darwins nun auch geistig und seelisch zu einem reflexabhängigen Mehrzeller und Gott als metaphysischer Haltepunkt mutiert zum »gasförmigen Wirbeltier« in der biologistischen Ethik Ernst Haeckels.
 
Was sollte dem Künstler in einer solchen Zeit anderes bleiben, als den Eingebungen zu folgen, die aus den geheimsten Winkeln seiner Seele zu ihm dringen, oder die er aus einer synästhetischen Wahrnehmung der Welt gewinnt, aus jener »Entregelung aller Sinne«, durch die der Dichter für Rimbaud allein zum »Seher« wird. Nur so kann er die utopische Idee von einem neuen Menschen entwickeln, der alle inneren Zwiespälte im freien Spiel seiner Seelenkräfte überwindet, der fähig ist, Rationalität und Irrationalität den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen und sie dadurch auch harmonisch verschmelzen zu können. Auf diese Weise vermag er schließlich zu einer Vorstellung des Absoluten zu gelangen, wie sie sich idealtypisch in einzelnen dichterischen Entwürfen Mallarmés und in Wagners begierig aufgenommenem Denken über das Gesamtkunstwerk findet. Vieles davon hatte die Romantik in ihren hellsten und dunkelsten Erscheinungsformen schon vorbereitet. Nun aber gewinnt es genaueren Umriss in den zeittypischen Äußerungen zu Dekadenz und Dilettantismus, zu Symbolismus und Satanismus, zu bis dahin nur bei de Sade beschriebenen Spielarten der Sexualität, zu Ästhetizismus, Dandytum und religiöser Neubesinnung.
 
Dekadenz, der Niedergang oder Verfall, ist ein seit der Antike vertrautes Kriterium für die Beurteilung der eigenen, später auch einer weiter zurückliegenden Epoche. Die neuzeitliche Karriere des Begriffs setzte mit Montesquieus »Betrachtungen über Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer« ein. Er wurde mit Désiré Nisards Studien zur lateinischen Literatur des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (1834) endgültig in die literarische Kritik überführt. Für Nisard stellte sein Untersuchungsgegenstand ein typisches Beispiel für Dekadenzliteratur dar, deren Eigenheiten - übertriebenes Raffinement des Stils, Gesuchtheit des Details und Betonung des Hässlichen oder Grotesken - er auch bei seinen Zeitgenossen, den Romantikern, fand. Was dem Philologen Nisard Anlass zu Verurteilung gab, wurde für Charles Baudelaire in seinen »Neuen Anmerkungen zu Edgar Allan Poe« (1867) Kriterium des Außerordentlichen. Die Bezeichnung »Littérature de décadence« wurde Qualitätsmerkmal des Neuen und Anderen, der Verfeinerung und der hochstilisierten Naturferne. Verlaines Gedicht »Mattigkeit« von 1883, das mit der Zeile »Ich bin das Kaiserreich am Ende der Dekadenz« beginnt, ging auf diese Umwertung des Dekadenzbegriffes ein und gab einen weiteren Anstoß zu seiner positiven Verwendung im Fin de Siècle, die trotz Nietzsches Wagnerkritik zunächst in Italien, dann aber auch in anderen europäischen Ländern aufgenommen wurde. Dekadent sein hieß nun, über eine besondere Lebensart verfügen, die alles Gegenständliche ästhetisiert; dekadente Literatur galt als die eigentlich zeitadäquate Literatur, deren historische Manifestationen man nicht nur in der römischen Kaiserzeit, sondern auch in der lateinischen Literatur der Spätantike und des Mittelalters finden kann. Dekadenz als letzter Entwicklungsstand der Künste und des Bewusstseins konnte so im Zusammenhang mit dem evolutionstheoretischen Denken Darwins zum Fortschritt selbst werden.
 
Im Umkreis dieser Epochenauffassung gelangten die Figuren des Dilettanten und des Dandy zu neuer Blüte. Der Dilettant ist im Fin de Siècle allein der unschöpferische Ästhet, der als Nachahmer der Natur nur eine zweite Natur schaffen kann, wie Hermann Bahr schreibt, denn »er kann nur äffen«. Wenn er die Natur als Wirklichkeitsmodell jedoch umgehen will, »muss er sich ins Leere verlieren«. Ideale Modelle des Dilettanten sind für Bahr die Schriftsteller Robert de Montesquiou und Oscar Wilde, an dem sich die Symbiose von Dilettant und Dandy besonders gut belegen lässt.
 
Auch der Typus des Dandy hat seine historischen Heroen, aber für das 19. Jahrhundert ist George Bryan Brummell (* 1778; ✝ 1840) das absolute Vorbild. Ihm eiferte Lord Byron ebenso nach wie Alfred de Musset oder - mit politischer Pointierung - Georg Büchner. Der Dandy zelebriert sein Ich, vornehm und blasiert, nie überrascht, doch immer für eine Überraschung gut, und dazu stets bereit, hinter seinem Ich als gestaltetem Kunstwerk zurückzutreten. Barbey d'Aurevilly, der Brummell in seinen letzten, von äußerem und innerem Elend gezeichneten Lebensjahren möglicherweise noch kennen gelernt hat, nennt den Schein das eigentliche Sein des Dandy. Und Charles Baudelaire schließt sich ihm an, wenn er in Kleidung und Auftreten des Dandy dessen aristokratischen Geist ausgedrückt findet. Denn nach Baudelaire hat der Dandy nur ein Ziel: Er will Trivialität in jeglicher Form bekämpfen und zerstören, er ist der letzte Held in den Zeiten des Niedergangs, der sich der gleichmacherischen Flut der Demokratie entgegenstemmt.
 
Die eindringlichste literarische Gestaltung finden die meisten der hier angesprochenen Phänomene in Joris-Karl Huysmans' Roman »Gegen den Strich« (1884) mit seinem dandyhaften Protagonisten, dem Herzog Jean Floressas des Esseintes. Um diesen letzten, »anämischen und nervösen« Nachkommen eines alten, reichen und mächtigen Adelsgeschlechtes herum komponiert der ursprünglich dem Naturalismus verbundene Autor sein »Brevier der Décadence« (so der englische Lyriker und Literaturkritiker Arthur Symons), in dem die zentralen Themen des Jahrhundertendes in einer Form behandelt werden, die den dichtungstheoretischen Vorschriften seines Lehrmeisters Zola spottet. In einem Monolog, der über die 16 Kapitel des Werkes hin geführt wird, beschreibt Des Esseintes seine Neurosen, seine bildkünstlerischen, literarischen und musikalischen Vorlieben, seine Suche nach morbiden Sinnesräuschen, seine sexuellen Perversionen und seine verbrecherischen Experimente. Überall auf der Suche nach dem Künstlichen, über die Maßen Verfeinerten, um sich von den rohen Vergnügungen und gewöhnlichen Leiden seiner Mitmenschen zu distanzieren, muss Des Esseintes am Schluss sein Refugium verlassen und resigniert sein Scheitern eingestehen: »In zwei Tagen bin ich in Paris - dann ist alles zu Ende; wie eine Springflut steigen die Wogen der menschlichen Mittelmäßigkeit zum Himmel. .. «
 
Der Roman »Gegen den Strich« schreibt die künstlerischen Vorbilder der »Décadents« fest: Jan Luyken, Gustave Moreau und Odilon Redon für die Malerei, Schubert, Schumann und Wagner für die Musik, Barbey d'Aurevilly, Baudelaire, Verlaine und Mallarmé für die Literatur. Er bereitet den Technikfetischismus der Futuristen ebenso vor wie die Rückkehr zum katholischen. Christentum, die Huysmans seinen Zeitgenossen selbst beispielgebend vorlebte: »Es ist ein Buch«, schrieb der Mitbegründer des »Mercure de France«, Rémy de Gourmont, »das auf Jahre hinaus unsere Sympathien und Antipathien vorweggenommen hat.«
 
Oscar Wildes »Dorian Gray«, der namenlose Maler in Hermann Bahrs Roman »Die gute Schule«, der Graf Andrea Sperelli d'Ugenta in Gabriele d'Annunzios »Lust«, der Marqués de Bradomín in den »Sonaten« Ramón del Valle-Incláns oder - als lateinamerikanische Variante des europäischen »Décadent« - José Fernández de Sotomayor y Andrade in dem »Geplauder nach Tisch« des Kolumbianers José Asunción Silva, aber auch Jacinto in »Stadt und Gebirg«, einer ironischen Beschreibung zweier gegensätzlicher Lebensentwürfe von José Maria Eça de Queirós, sind nur einige Namen, die die ungeheure Nachwirkung des Werkes in den Literaturen der Jahrhundertwende belegen.
 
Die ästhetischen Entwicklungen im Fin de Siècle, die unterschiedlichen nationalen Ausprägungen von Dekadenz in den Künsten, sind ohne Paris als multikulturellem Zentrum der Zeit nicht denkbar. Darüber hinaus folgte hier wie dort auf die positive Besetzung des Niedergangsbegriffes der konservative Katzenjammer auf der einen Seite und die avantgardistische Explosion auf der anderen. Mit Max Nordaus polemischer Streitschrift »Entartung« (1892), die innerhalb weniger Jahre in sieben verschiedene europäische Sprachen übersetzt wurde, begann die Attacke auf Dekadenz und Symbolismus, die sich allenthalben in Vorformen von Blut-und-Boden-Literatur fortsetzte, in der Erneuerung religiösen Dichtens, in idyllischen Alltagsweltbeschreibungen oder der klassizistischen Wiederaufnahme von mythologischen Themen. Demgegenüber standen jedoch Alfred Jarry und der Beginn des absurden Theaters, Filippo Tommaso Marinetti, der nach epigonalen symbolistischen Anfängen alle Traditionen ablehnt, die Simultaneität von Vorgängen und die Besonderheit des Augenblicks feiert, Technik und Geschwindigkeit und die Aufhebung grammatischer Regeln. Sein »Futurismus« wurde zum Angelpunkt vieler kommender Avantgarde-Bewegungen, seien es die grenzüberschreitenden des Dadaismus oder Surrealismus oder die an Spanien und Spanisch-Amerika gebundenen des »Creacionismo« und des »Ultraísmo«, die Dichtung als spontane, traditionsfreie Schöpfung verstehen und sich dabei noch zu übertreffen versuchen, oder der »Modernismo«, der sich in den Ländern der iberischen Halbinsel ebenso entfaltete wie in Lateinamerika. Das Fin de Siècle hat sich damit als vielstimmiger Ursprung der Kultur des 20. Jahrhunderts erwiesen.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange


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