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EMPFINDSAMKEIT: GEFÜHLSKULTUR DES 18. JAHRHUNDERTS

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Empfindsamkeit: Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts
 
Sensibilité, Sensibility, Empfindsamkeit - die Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts ist ein europäisches Phänomen. Der deutsche Ausdruck »empfindsam« machte Karriere, nachdem Lessing ihn seinem Freund Bode für die Übersetzung von Laurence Sternes »Sentimental Journey« vorgeschlagen hatte. »Kopf und Herz« hieß eine der Lieblingsformeln der Zeit. Empfindsamkeit ließ das Pendel zugunsten des Herzens ausschlagen. Damit entfernte sie sich freilich nicht aus dem Feld der Aufklärung. Im Gegenteil: Hat man doch inzwischen erkannt, dass nicht rationalistische Normativität, sondern eine »Rehabilitation der Sinnlichkeit« die Hauptströmungen der aufgeklärten Philosophie lenkte. Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften, vom Rationalismus als niedere und dunkle Zonen der Seele abgetan, emanzipierten sich und beanspruchten ihre Rechte an der Ausformung einer neuen Subjektivität.
 
Sich fühlen - so lautete die Devise der Empfindsamen. Von den »Tränen. .. der sich fühlenden Menschlichkeit« sprach der Dramaturg Lessing. »Exister pour nous, c'est sentir«, hieß eine charakteristische Losung Rousseaus. Man schrieb den bekannten Satz Descartes' (»Ich denke, also bin ich«) auf die Empfindung seiner selbst um: »je sens; donc j'existe«. »Ich fühle mich! Ich bin!« sagte Herder, indem er sich in die Welt eines Blinden versetzte.
 
Viele Ursachen beteiligten sich am Aufkommen der Gefühlskultur. Dazu gehörte nach dem Soziologen Norbert Elias der fortgeschrittene Prozess der Zivilisation, der Raum schafft für die Verfeinerung der Innenwelt. Dazu gehörte die Entstehung der neuen bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren intimen Strukturen, Entdeckung der Kindheit, Liebesheirat, Aufwertung der ehelichen Liebe. Für die deutschen Verhältnisse spielte das säkularisierte Erbe pietistischer Frömmigkeit eine gewichtige Rolle. Die Annahme eines einfachen Zusammenhangs von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit hält näherer Betrachtung nicht stand. Kein Zweifel aber kann daran sein: Literatur und Lektüre werden zu den entscheidenden Medien, die Empfindsamkeit ausbilden und ihr immer neue Nahrung zuführen. Die Realität und Wahrnehmung stiftende Wirkung der Literatur tritt vielleicht nirgends deutlicher in Erscheinung. Das schlagendste Beispiel bietet Goethes »Werther«. »Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben / Jedes Mädchen, so geliebt zu sein«, heißt es in den Motto-Versen der zweiten Auflage. Die Nachahmung wuchs sich zu einem wahren Werther-Fieber aus; manchmal ging sie bis zum Selbstmord.
 
Als Goethe in »Dichtung und Wahrheit« das Vor- und Umfeld des »Werther« mustert, führt er besonders eingehend den »ernsten Trübsinn« der englischen Literatur an. Die empfindsame Welle kam aus England und Frankreich. Die Tugendempfindsamkeit von Samuel Richardsons Romanen, die »Empfindsame Reise« Sternes, »Die neue Heloise« Rousseaus waren zündende Vorbilder. Neben dem Roman begünstigten auch andere neue Gattungen die »sich fühlende Menschlichkeit«: die »Comédie larmoyante« oder das »weinerliche Lustspiel«, das bürgerliche Trauerspiel mit seiner Mitleids- und Tränenseligkeit, die melancholiegetränkte Lyrik der Engländer Thomas Gray und Edward Young, die düsteren Gesänge des »Ossian«, aber auch die erhabenen Oden Klopstocks. Im »Triumph der Empfindsamkeit« erlaubte sich Goethe den kräftigen Spaß, die literarischen Anstifter bloßzustellen - darunter sich selbst. Ein mit allen Topoi der Empfindsamkeit dekorierter Prinz betet als Geliebte eine ausgestopfte Puppe an. Als man sie öffnet, fallen, »mit Häckerling vermischt«, lauter »Empfindsamkeiten« heraus, Bücher nämlich: »Siegwart, eine Klostergeschichte«, und dann »die Grundsuppe«, »Die neue Heloise« und »Die Leiden des jungen Werthers«.
 
Der »Siegwart« des einstigen Göttinger Hainbündlers Johann Martin Miller, zwei Jahre nach dem »Werther« erschienen, stellt nun in der Tat alles in den Schatten. »Der ganze Roman ist im Grunde ein einziger, immer stärker anschwellender Tränenstrom« und sein Personal ein Ensemble von »Kettenweinern«. Man hat nachgezählt: Auf den über tausend Seiten des Romans wird über 500 mal geweint. Das »weinende Saeculum« der Empfindsamkeit hat damit wohl zu seinem trivialsten Ausdruck gefunden. Für die Empfindsamen jedoch sind Tränen der Ausweis vollendeter Menschlichkeit. Barocke Helden weinen nicht - noch in Schillers »Don Karlos« ist die Nachricht »Der König hat geweint« ein unerhörtes Ereignis. »Wer Empfindungen erhöht und verbessert, der erreicht gewiss einen eben so erhabenen Zweck als der, welcher blos für den Verstand sorgt«, so formuliert Miller seine Botschaft.
 
Der Empfindsame sucht die sympathetischen Tränen - nichts verschafft ihm größere Lust. Warum das so ist, erklären die Psychologen, als einer der ersten Moses Mendelssohn. Sein Befund: Offenbar sind es Mischungen von Lust- und Unlustkomponenten, »vermischte Empfindungen«, »schmerzhaftangenehme Empfindungen«, die den größten Reiz auslösen, tiefer als das »reine Vergnügen« in die Seele eindringen und sich länger darin halten. An ihrer Spitze steht das Mitleid. In seiner einzigartigen »Vermischung von angenehmen und unangenehmen Empfindungen«, von Unlust über das Unglück und Lust an der Liebenswürdigkeit und Unschuld des Leidenden, entdeckte Mendelssohn den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Zugleich kommt ein äußerst fruchtbares Grundmodell der Empfindsamkeit zu Gesicht. Denn die Vermischung von Lust und Schmerz kann viele Formen annehmen. Mendelssohn selbst machte auf den gleich gearteten Komplex des Erhabenen aufmerksam. Auch hier: »angenehmes Schauern« und »schauervolles Ergötzen«, diesmal angesichts der Erfahrung des »Unermesslichen«. Schon lange vorher sprachen die Entdecker des Erhabenen vom »Delightful horror«, von »Terreur agréable«. Die Empfindsamen bevorzugten freilich eher sanftere Mischgefühle. So fand, ja erfand die Gefühlskultur die sanfte oder süße Melancholie, die »qualenvolle Wonne« des »Joy of grief«, die Wonne der Wehmut, aber auch ganz neuartige Empfindungen wie Heimweh und Sehnsucht. Selbst die Lust an der Angst, die der Schauerroman ausbeuten wird, gehört in diesen Zusammenhang. Eine wahre Sammlung melancholisch eingefärbter Mischgefühle stellt namentlich die unglückliche Geschichte des »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz dar, allerdings schon aus kritischer Perspektive.
 
Natur, Landschaft, Einsamkeit, Freundschaft, Liebe, Lektüre und Briefe bildeten die beliebtesten Resonanzräume der Empfindsamkeit. Gern bewies sie ihre Sympathiefähigkeit am Geringen, Unscheinbaren, Kleinen. Das hatte Sternes Reiseroman vorgemacht. Ein Star im Käfig, ein toter Esel, eine Kammerzofe - alles setzt das zärtliche Herz in Bewegung. So taucht in der erhabenen Szenerie von Klopstocks »Frühlingsfeier« auch ein »Frühlingswürmchen« auf. Und der berühmte Mai-Brief Werthers durchmisst die gefühlte Natur bis zu den »unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen«. Das sich fühlende Ich setzt sich in den Mittelpunkt der Welt. Nicht weniger eindrucksvoll als Werther hat das Herder ausgesprochen: »Ich / Bins, in dem die Schöpfung sich / Punktet, der in Alles quillt / Und der Alles in sich füllt! - / Bis zur letzten Schöpfung hin / Fühlet, tastet, reicht mein Sinn!«
 
Werther, der seine ganze Existenz auf sein »Herz« gründet, demonstriert nach dem Willen seines Autors allerdings auch den Absturz der fühlenden Hochspannung, den Wirklichkeitsverlust des nichts als fühlenden Herzens. Goethes Roman zeigt gleichermaßen den Höhepunkt wie die Krise der Empfindsamkeit. Danach war der Verfall unaufhaltsam. Verspottet und in Grund und Boden kritisiert, verlief sich die Empfindsamkeit in seichte »Empfindelei«.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
Literatur:
 
Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789, Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München 1990.


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