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ERINNERUNGSKULTUR

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Erinnerungskultur: übersetzung

Erinnerungskultur,
 
Begriff der Kulturwissenschaften, der sich im Anschluss an die bahnbrechenden Arbeiten des Heidelberger Ägyptologen J. Assmann und der Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann (* 1947) inzwischen zu einem Schlüsselbegriff der politischen und kulturellen Diskussionen um die Funktion von kulturellen Mustern der Erinnerung, die Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung für die Ausbildung von Identität und namentlich über den Umgang mit Geschichte und Vergangenheit im kollektiven Rahmen (nationale Geschichten, nationales Gedenken) entwickelt hat. Sowohl im persönlichen, biographischen Bereich als auch im Zusammenhang kollektiven Bewusstseins bezeichnet der Begriff den mehr oder weniger reflektierten Umgang mit Ereignissen und Zusammenhängen der Vergangenheit und hebt dabei den Konstruktionscharakter jeder Form von Bezugnahme auf vergangene Erfahrungen (Erinnerungen) im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft hervor.Im Besonderen in Deutschland (Holocaust), aber auch darüber hinaus und zum Teil in anderen Zusammenhängen (z. B. Geschichte der Sklavendeportationen, Kolonialismus, Zerstörung der indianischen Kulturen) steht dabei der Umgang mit Verbrechen und Schuld in der Vergangenheit sowie deren gegenwärtige Bedeutung im Vordergrund der Diskussion (etwa hinsichtlich der Aufgaben eines im Sommer 2000 eingerichteten »Zukunftsfonds« der Stiftung zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, der den charakteristischen Namen »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« trägt); ob hierbei, wie dies Karl Heinz Bohrer (* 1935) im Jahr 2001 beklagt hat, die ältere Geschichte zugunsten der »Nahoptik« der zeitnäheren Probleme vernachlässigt wird, ist umstritten.
 
Immerhin lässt sich der Begriff Erinnerungskultur von seinen beiden Seiten her lesen: Zum einen werden Kulturen als Speicher und Träger von Erinnerungen betrachtet. Kulturen lassen sich in dieser Hinsicht dann als Muster verstehen, in denen bestimmte Erinnerungen überliefert, wachgehalten und weitergeführt, andere vernachlässigt, vergessen oder verdrängt werden, und sie können entsprechend diesen Funktionen differenziert werden. Hier geht es also sowohl um die thematische Auswahl an Bezugspunkten aus der Vergangenheit, in denen sich das Selbstverständnis eines Kollektivs spiegeln kann, als auch um die Formen, in denen Erinnerungen im Zusammenhang eines bestimmten Kollektivs (Kultur) gestaltet und wahrgenommen beziehungsweise auch nicht beachtet werden. In diesem Sinn ist Erinnerungskultur mit Begriffen wie »Geschichtspolitik« und »Erinnerungspolitik« verbunden, die deutlicher noch die Codierung von Vergangenheit im Interesse politischer Ziele hervorheben, seien diese nun legitimatorischer, denunziatorischer oder kompensatorischer Art. Der Begriff hat in dieser Lesart eine kulturtheoretische und hinsichtlich der Bedeutung von sozialen Prozessen und Traditionsbildungen analytische Bedeutung. In einer zweiten Lesart steht Erinnerung im Mittelpunkt der Begriffserklärung, womit individuelle, gruppenspezifische und kollektive Weisen der mehr oder weniger bewussten Bezugnahme auf tatsächliche oder vorgestellte Vorgänge in der Vergangenheit in den Blick treten und in bewusstseinsphilosophischer, sozialpsychologischer, historischer, sozialanthropologischer oder ethischer Sicht als Bezugspunkte für Muster betrachtet werden, in denen sich Individuen und Kollektive mit ihren eigenen Vergangenheiten beschäftigen. Entsprechend stehen hier biografische, ethische oder juristische Aspekte im Mittelpunkt und werden mit Fragen politischer, sozialer oder individueller Identität verknüpft.
 
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Differenz zwischen den Begriffen Erinnerungskultur und »Gedächtniskultur« unbestimmt. Sie lässt sich vielleicht dahingehend klären, dass sich Erinnern zunächst auf die mit den Individuen verbundenen affektiven und kognitiven Leistungen der Rückwendung auf vergangene Erlebnisse und Erfahrungen bezieht, zu denen freilich auch selbst wieder gespeicherte und bereits bearbeitete Bilder der Vergangenheit (»Erfahrungen aus zweiter Hand«) gehören können, während sich Gedächtnis auf eine bereits gestaltete Erinnerung sowie auf die psychischen, sozialen und kulturellen Apparate bezieht, in denen sich Erinnerungsleistungen vollziehen beziehungsweise gespeichert werden. Erinnerung würde in diesem Sinn den auch nicht intentionalen Regungen und Wahrnehmungen des Bewusstseins, gegebenenfalls sogar den unbewussten Erfahrungen und Regungen (Traumata) folgen, während das Gedächtnis eine intentionale (also wie auch immer gewünschte) und von einem Speichermedium (Leib, Bewusstsein, Sprache, Mythen, Geschichten, Schrift, Traditionen, Rituale, Archive, Druckerzeugnisse, Denkmäler, Bibliotheken, elektronische Wissensspeicher) getragene Bezugnahme auf Vergangenheit und Erinnerung bedeuten könnte. »Glückliche Menschen«, so der Schriftsteller T. Brussig in einer satirischen Bemerkung zum Umgang mit der Vergangenheit des Lebens in der DDR, »haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen«.
 
 Erinnerung, Gedächtnis und Kultur
 
Der Begriff Erinnerungskultur hebt im Grundsatz auf zwei Bedeutungsebenen ab: Wie transportieren Kulturen Erinnerungen und wie lassen sich Erinnerungen kulturell gestalten, pflegen oder reflexiv verarbeiten? Kulturen werden zunächst als Formen der Präsentation und des Umgangs mit Erinnerungen gesehen, wozu neben der Pflege und der politischen Codierung von Zeiterfahrungen auch deren Umbenennung, das Verdrängen und das Vergessen der Erinnerung gehört. Kulturen können somit selbst als Speicher von Erinnerungen aufgefasst beziehungsweise anhand der Frage, wie sie Erinnerungen bearbeiten und weitergeben, klassifiziert werden. Hierfür hat der Ethnologe C. Lévi-Strauss bereits in den 1960er-Jahren die Unterscheidung »kalter« und »heißer» Gesellschaften vorgeschlagen, wobei Kulturen dann als »kalt« bezeichnet werden, wenn ihre Institutionen darauf zielen, gesellschaftlichen Wandel und das heißt die Wirksamkeit von Geschichte zum Verschwinden zu bringen beziehungsweise vergessen zu machen, während »heiße« Gesellschaften auf geschichtliche Veränderung Wert legen und diese als »Motor« ihrer Entwicklung sehen. Damit ist, wie J. Assmann im Zusammenhang dieser Diskussion klargestellt hat, nicht die Unterscheidung von geschichtslos und historisch, die eine der Grundlagen der eurozentrischen Geschichtskonstruktionen im 19. Jahrhundert bildete, wieder aufgenommen. Es handelt sich vielmehr um zwei »Optionen des kulturellen Gedächtnisses«, die sich für jede Gesellschaft anbieten, sich mischen und verändern können. Entsprechend können für die kulturelle Bedeutung von Erinnerung fünf Aspekte hervorgehoben werden:
 
1) Zunächst einmal können Kulturen funktionalistisch als Speicher von Erinnerungen verstanden werden; die Sprache als zentraler Träger kultureller Muster, ebenso aber auch Schriften, religiöse Vorstellungen, Riten und Sitten, Mythen, Geschichten und künstlerische Produkte sind sowohl Träger als auch Produkte und Gestaltungen von Erinnerungen, die sie jeweils reproduzieren und zugleich variieren.
 
2) Es lässt sich eine Kulturgeschichte des Erinnerns und ebenso der Techniken des Erinnerns schreiben, in der neben Tänzen, Riten und Mythen im orientalisch-abendländischen Denken mit der antiken Rhetorik und der dort angelegten Technik der Memoria ein eigenes Medium und eine eigene Kunstfertigkeit entstanden ist. Entsprechendes berichtet die griechische Mythologie, wenn dort Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, sowohl als Mutter der Musen als auch der Wissenschaften auftreten kann.
 
3) Es lässt sich eine Typologie von Kulturen entlang der Frage entwickeln, wie Erinnerungen codiert, transportiert und gestaltet werden können; Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Körpergestaltung und Leiblichkeit, Bilder, Tanz, Bauformen, Tempel und Riten bilden hier von alters her die Medien der Erinnerung, deren Bedeutung im Zeitalter elektronischer Medien keineswegs erloschen, vielmehr in ihrer medialen Präsentation noch gewachsen ist.
 
4) Charakteristisch für moderne Kulturen ist freilich die diese beherrschende Vorstellung historisch oder sonstwie gesellschaftlich gebotener Erinnerungen, also ein Verhältnis zu Geschichte und Vergangenheit, das sich dem Anspruch stellt, »an der Zeit« zu sein. Dem liegen seit dem Jahrhundert der Aufklärung begründete evolutionäre und auf Fortschritt bezogene Modelle historischer Bewegungen zugrunde, die gerade angesichts der mit Erinnerungskultur ebenfalls thematisierten Schuldverhältnisse universale Maßstäbe, zum Beispiel Menschenrechte, fordern und befestigen wollen.
 
5) Entsprechend werden Versuche der Leugnung und Verdrängung solcher schuldhafter Vergangenheiten am Maßstab der Gegenwart skandalisiert, auch wenn sich schließlich im Zusammenhang der Postmoderne die Einsicht in den Konstruktionscharakter jeder Art von Erinnerung nicht abweisen lässt. Gerade angesichts der damit zutage tretenden Angreifbarkeit und Schwäche der Erinnerung sind komplexe und im Lebensvollzug angelegte Formen der Bearbeitung von Vergangenheit, als die sich »Erinnern - Vergessen - Verzeihen« (P. Ricœur) ansprechen lassen, sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Perspektive unverzichtbar. So wie in der Antike Rhetorik als eine Art habitueller Präsentation die grundlegend individuelle Dimension der Erinnerung (Avishai Margalit, * 1939) sichtbar und damit sozial anschließbar machte, so erfordern moderne, multimedial orientierte Lebenzusammenhänge die Erkundung von sozialen Mustern, die Erinnerungen tragen, befestigen und auflösen können. Dabei ist der individuelle Grund der Erinnerung - der sich in der Antike bereits darin aufbewahrt findet, dass es neben der historischen Erinnerung auch noch mit dem Begriff der Anamnese (bei Platon) eine Vorstellung davon gibt, dass sich eine Person (Seele) über den Rückbezug auf die jeweils eigene Vergangenheit bestimmen kann (Augustinus) - auch für die Moderne ein Ansatzpunkt. Dieser ist freilich dahingehend verändert, dass statt eines wie auch immer begründeten transzendenten Bezugspunktes nurmehr die Geschichte selbst (als »Kollektivsingular«, Reinhart Koselleck, * 1923) oder aber die soziale Gruppe (M. Halbwachs) als Halt und Träger fungieren kann. Solange Erinnerungen noch an jeweils individuelle Lebenserfahrungen angeschlossen und von ihnen getragen werden, kann deshalb von einem kommunikativen Gedächtnis gesprochen werden; da, wo diese Einbettung der Vergangenheit in die Gesprächsgemeinschaft Anteil nehmender Individuen verloren geht, lässt sich vom Übergang der Erinnerung in das »kulturelle Gedächtnis« sprechen. Mit dieser Unterscheidung J. und Aleida Assmanns ist auch der Einsatzpunkt für Erinnerungskultur benannt: Er ist dort, wo individuelle Erinnerungen der kulturellen Codierung bedürfen, um als Erinnerungen bearbeitbar zu bleiben, wobei die »Kunst des Vergessens« (H. Weinrich) ebenso zu den Strategien im Umgang mit der Vergangenheit gerechnet werden muss wie die »Gnade des Verzeihens«: »es setzt die Vermittlung durch ein anderes Bewusstsein voraus, das Bewusstsein des Opfers nämlich, welches allein befugt ist zu verzeihen. Der Hauptakteur der Ereignisse. .. - der Urheber des Unrechts - kann nur um Verzeihung bitten« (Ricœur).
 
 Aktuelle Bezüge
 
Für die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs, die weit über den Diskussionsstand etwa der Geschichts- oder Altertumswissenschaften hinausgeht, und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit spielen wohl fünf Aspekte eine Rolle:
 
1) Technologisch bringt die Umstellung der Speichermedien von Druckerzeugnissen auf elektronische Datenverarbeitung für den Umgang mit Erinnerung und Vergangenheit einerseits eine Ausweitung der vorhandenen Datenmengen und eine Vervielfältigung ihrer Nutzungsmöglichkeiten mit sich. Auf der anderen Seite verschärft sie aber das Problem einer sinnvollen Nutzung angesichts begrenzter Zeit und Ressourcen und verstärkt die Möglichkeiten der Manipulation und die Probleme »richtiger« Auswahl.
 
2) Historisch befindet sich die westliche Welt in einer Phase, in der die Zeitzeugen, die noch in ihrer eigenen Biografie die Erinnerung an die Gewalterfahrungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts (NS-Terror, Stalinismus, Weltkriege) bewahren und so von deren Verwerflichkeit berichten können, aussterben. Damit verschwinden lebendige Erinnerungen an jene Gegenbilder, denen gegenüber sich die westlichen Demokratien und die internationale Staatengemeinschaft als freiheitliche und sozial gerechtere Staaten bestimmen wollen, sodass nunmehr nicht nur neue Medien der Speicherung und andere Formen der Arbeit und der Aneignung der Vergangenheit gesucht und entwickelt (z. B. Videoaufnahmen von Holocaust-Überlebenden in der von S. Spielberg gegründeten Shoah Foundation), sondern auch thematisch Fragen der Auswahl und der Parteinahme neu beantwortet werden müssen. Damit geht für die deutschen Zusammenhänge die Erfahrung einher, dass - anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit erwartet - die Beschäftigung mit und die Aufmerksamkeit gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen im Laufe der Zeit nicht abgenommen haben, sondern Interesse und auch Informationsansprüche mit dem zeitlichen Abstand deutlich gewachsen sind, wozu ihrerseits neue mediale Präsentationsformen (Spielfilme, Videodokumentationen, Multimedia-Installationen) erheblich beigetragen haben.
 
3) Soziologisch und politisch wirkt sich die in verschiedenen Zusammenhängen zu beobachtende und erklärbare Individualisierung bei gleichzeitig steigendem Bildungsniveau und einer wachsenden Pluralisierung von Lebensentwürfen dahingehend aus, dass sich individuelle und gruppenbezogene Identitätsentwürfe in Bezug auf beziehungsweise gegen teils reale, teils imaginierte Vergangenheiten formieren und hierauf teils institutionalisiert und systematisch, teils willkürlich und wechselnd Bezug nehmen. In dieser Hinsicht spiegelt etwa der mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen in den 1940er-Jahren einsetzende Kampf um Anerkennung - in dessen Folge die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung ebenso ihren Aufschwung nahm wie die Studentenrevolte der 1960er-Jahre, die »neue« Frauenbewegung und andere »neue soziale Bewegungen« in den 1970er-Jahren - einen bis heute andauernden Kampf um Erinnerungen und Geschichte wider, in dem zumal historisches Unrecht als Legitimation heutiger Ansprüche auf Ausgleich, Anerkennung und Entwicklung fungiert. Dies lässt sich für die Ebene von Individuen anhand der unterschiedlichen Bezugsbereiche von Identitäten (personale, gruppenbezogene, religiöse, regionale, nationale Identität) ebenso darstellen wie für die Bedeutung erinnerter Vergangenheiten im Hinblick auf die Ausbildung von Gruppenselbstverständnissen (etwa ethnischer Minderheiten) und für darüber hinausreichende Großgruppenverbände (z. B. nationale Orientierungen, Denkmäler, »Erinnerungsorte«, Pierre Nora). Von besonderer Bedeutung ist dieser legitimatorische Bezug auf Erinnerung und Vergangenheit für die Bundesrepublik Deutschland, die sowohl von ihrer Verfassung her als auch im Zuge ihrer politischen Geschichte und namentlich in den Bereichen politischer Kultur und politischer Bildung sich selbst als Gegenentwurf zum Terrorstaat des Nationalsozialismus und zum Unrechtsstaat des staatssozialistischen Deutschland versteht. Dem dient etwa die Bezugnahme auf die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 in der politischen Kultur der Bundesrepublik, ebenso die 1997 erfolgte Benennung des 27. Januar (an dem 1945 das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde) zum Tag des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen durch den damaligen Bundespräsidenten R. Herzog oder die Erinnerung an der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Freilich findet sich dieser Aspekt auch in anderen Staaten und Gesellschaften wieder, die wie etwa die Republik Südafrika nach dem Ende der Apartheid seit 1990 oder die osteuropäischen Staaten nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft sich selbst gegenüber dem historischen Unrecht begründen wollen und sich u. a. durch dessen Aufarbeitung zu legitimieren suchen (Vergangenheitsbewältigung), und er beleuchtet auch die besondere Sensibilität, mit der etwa in Frankreich oder Polen Informationen diskutiert werden, die den Status, »Opfer« und nicht Täter des NS-Regimes gewesen zu sein, infrage stellen; dazu gehört die innerfranzösische Debatte um die Rolle der Kollaboration und des Vichy-Regimes, wie sie nicht zuletzt durch den Prozess um den Nazi-Kollaborateur Maurice Papon 1998 erneut in Gang gekommen ist. Ebenso ist auf die im Jahr 2001 Polen erschütternde Dokumentation eines von der polnischen Landbevölkerung im Jahr 1941 - ob im Auftrag der Deutschen oder aus eigenem Antrieb, ist umstritten - begangenen Pogroms an jüdischen Mitbewohnern durch den polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross hinzuweisen.
 
4) Im Weltmaßstab haben Vernetzungsprozesse ökonomischer, gesellschaftlicher und v. a. auch medialer Strukturen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkamen und heute unter dem Stichwort »Globalisierung« angesprochen werden, zum einen zu einer Potenzierung von Wissensvorräten und Erinnerungsansprüchen (»Global village«) geführt und zum anderen das Problem einer Universalisierung von Maßstäben (Multikulturalismus, Kulturrelativismus; universalistische Vorstellungen, formuliert etwa in der UNO-Menschenrechtscharta von 1948) zur Bewertung und Bearbeitung von Erinnerungen und Vergangenheiten aufgeworfen. Wie schwierig die Bearbeitung der damit verbundenen Fragen ist, lässt sich an nahezu allen aktuellen Konfliktfeldern zeigen, in denen - im Nordirlandkonflikt ebenso wie im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern oder in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens - unterschiedliche Erinnerungen und Geschichten zur Legitimation eigener Ansprüche, zur Begründung eigener Verletzungen und zur Rechtfertigung der eigenen fortgeführten Aggression angeführt werden.
 
5) Schließlich treffen in der Verknüpfung postmoderner und moderner Geschichtskonzeptionen zum Ende des 20. Jahrhunderts zwei Vorstellungen aufeinander: die einer weitgehenden Machbarkeit von Gesellschaft und Zukunft (Moderne), die zugleich eine Orientierung am Fortschrittsmodell und die Idee einer »offenen« Zukunft umfasst, und die in der Kulturkritik des 19. Jahrhunderts (F. Nietzsche) bereits aufkommende und nunmehr in der Postmoderne vertretene Auffassung, dass es sich bei auf dem Weg zur Moderne in Anspruch genommenen Fortschrittsdarstellungen um große legitimatorische, das heißt zum Teil kulturell codierte, ja »erfundene« Erzählungen handelt (J.-F. Lyotard: »grands récits«), die sich keineswegs auf eine objektiv vorhandene Wahrheit der Geschichte gründen lassen. Die damit erkennbare Begründungsbedürftigkeit wie auch die Auswahlverpflichtung (sich auf eine wie auch immer bestimmte Vergangenheit zu beziehen) fordern individuelle und gesamtgesellschaftliche Entscheidungen, Reflexionsmöglichkeiten und kulturelle Muster, in denen diese Prozesse erkundet und bearbeitet werden können; hierfür steht derzeit der Begriff Erinnerungskultur.
 
Angesichts des Tatbestands, dass sich einem kulturhistorischen und einem wissenssoziologischen Blick eine Fülle sehr unterschiedlich kodifizierter Daten zur Bestimmung dessen, was mit Vergangenheit angesprochen werden kann, bieten und sich gerade auch für die Aufarbeitung der »vergangenen« Katastrophen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts das Interesse den nicht gewollten und nicht reflektierten Verarbeitungsformen (Alltagsbewusstsein, Tagträume, verdrängte Erfahrungen, Traumata, Verschiebungen, Projektionen und Lügen) zuwenden muss, wird mit dem Begriff der Erinnerungskultur ein Zugang gewählt, der sich den im Lebensvollzug stattfindenden Bezugnahmen auf eine Vergangenheit öffnet, die als kulturelle und gegebenenfalls auch individuelle Konstruktion erkennbar ist, d. h. als eine von Menschen und Gruppen in bestimmten Situationen (die ihrerseits von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft strukturiert werden) geschaffene und mehr oder weniger stark angeeignete beziehungsweise vertretene Vorstellung von Vergangenheit, die aber formuliert wird im Hinblick auf die Deutung der Gegenwart und die Projektion von Zukunft. In diesem Sinne spricht der Philosoph H. Lübbe von der »vergangenheitserzeugenden Kraft« des gegenwärtigen Fortschrittsbewusstseins: »Mit dem Modernitätsgrad unserer Zivilisation wächst zugleich die Intensität ihrer progressiven Selbsthistorisierung.«
 
 Debatten der Erinnerungskultur
 
Gerade in dem Maße, wie sich technisch-wissenschaftliche Zivilisationen auf der Basis gespeicherten und immer weiter zu erarbeitenden Wissens definieren, spielen die Bezugnahmen auf die Vergangenheit eine zentrale legitimierende, aber auch orientierende und zum Teil kompensierende Funktion. Dabei lassen sich ältere und neuere Formen der Präsentation von Erinnerungen und der Bezugnahme auf Vergangenheit unterscheiden, wobei es zur Signatur der Gegenwart als einer sich selbst historisch reflexiv erschließenden Zeit gehört, dass sich Formen unterschiedlichster Zeitstufen vermischen lassen, sodass Denkmäler und Geschichtsbücher, künstlich-künstlerisch angerichtete Erlebnisfelder und multimedial angelegte Erfahrungsräume nebeneinander treten. Anders aber als im 19. Jahrhundert, in dem im Zuge des Historismus und der nationalstaatlichen Ausrichtung des europäischen Gesellschaftssystems Mythen, nationale Symboliken und entsprechende »große Erzählungen« in ihrer »einfachen Wahrheit« geschaffen, vermittelt und geglaubt wurden, zählt es zu den Ansprüchen einer modernen Erinnerungskultur, dass Inhalte und Formen jeweiliger Erinnerungen selbst zur Debatte stehen und in den jeweiligen Gedächtnisangeboten auch in ihrer Mehrdeutigkeit gezeigt werden sollen. Dies bringt neben Aushandlung und Diskurs auch Streit auf den Plan, sodass sich ein erheblicher Teil des Bewusstseins zur Erinnerungskultur in der Bundesrepublik in den letzten Jahren über heftige Auseinandersetzungen (z. B. Historikerstreit 1986/87, Auseinandersetzung um das Berliner Holocaust-Mahnmal) konstituiert hat, wobei die Rolle einzelner Kunstwerke (Filme wie Spielbergs »Schindlers Liste«, 1993, oder R. Benignis »Das Leben ist schön«, 1999; Romane wie B. Schlinks »Der Vorleser«, 1995) und die Äußerungen von Intellektuellen und Künstlern (»Walser-Bubis-Debatte« 1998) ebenso zur Schärfung des Bewusstseins dessen, wie mit Erinnerungen umgegangen werden kann, beigetragen haben, wie politische und rechtliche Schritte zur Anerkennung historischer Verbrechen (Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern) die Konturen der Erinnerungskultur nutzen und gestalten können.
 
Literatur:
 
H. Lübbe: Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle u. polit. Funktionen des histor. Bewußtseins (1985);
 
Kultur u. Gedächtnis, hg. v. J. Assmann u. T. Hölscher (1988);
 A. Grosser: Ermordung der Menschheit. Der Genocid im Gedächtnis der Völker (a. d. Frz., 1990);
 R. Lachmann: Gedächtnis u. Literatur. Intertextualität in der russ. Moderne (1990);
 D. Diner: Der Krieg der Erinnerungen u. die Ordnung der Welt (1991);
 
Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. v. A. Haverkamp u. R. Lachmann (1991);
 M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (a. d. Frz., Neuausg. 4.-5. Tsd. 1991);
 
Memoria. Vergessen u. Erinnern, hg. v. A. Haverkamp u. R. Lachmann (1992);
 
»Ohne Erinnerung keine Zukunft!«. Zur Aufarbeitung von Vergangenheit in einigen europ. Gesellschaften unserer Tage, hg. v. C. Burrichter u. a. (1992);
 
Mnemosyne, hg. v. A. Assmann u. D. Harth (3.-4. Tsd. 1993);
 T. Todorov: Angesichts des Äußersten (a. d. Frz., 1993);
 
Generation u. Gedächtnis. Erinnerungen u. kollektive Identitäten, hg. v. K. Platt u. M. Dabag (1995);
 R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (31995);
 
Memoria als Kultur, hg. v. O. G. Oexle (1995);
 
Gedächtnis. Probleme u. Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, hg. v. Siegfried J. Schmidt (31996);
 
Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, hg. v. Gary Smith u. A. Margalit (1997);
 G. Schwan: Politik u. Schuld. Die zerstörer. Macht des Schweigens (1997);
 
Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse u. Holocaust, hg. v. M. S. Bergmann u. a. (a. d. Amerikan., Neuausg. 1998);
 P. Nora: Zw. Geschichte u. Gedächtnis (a. d. Frz., Neuausg. (1998);
 P. Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen (a. d. Frz., 1998);
 A. Assmann u. U. Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit dt. Vergangenheiten nach 1945 (1999);
 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung u. polit. Identität in frühen Hochkulturen (Neuausg. 1999);
 
Der Denkmalstreit - das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Eine Dokumentation, hg. v. U. Heimrod u. a. (1999);
 L. Niethammer: Dtl. danach. Postfaschist. Gesellschaft u. nat. Gedächtnis (1999);
 P. Reichel: Politik mit Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die natsoz. Vergangenheit (Neuausg. 1999);
 L. Rosh: Die Juden, das sind doch die anderen. Der Streit um ein dt. Denkmal (1999);
 
Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung u. Vergangenheitspolitik im internat. Vergleich, hg. v. P. Bock u. E. Wolfrum (1999);
 E. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrep. Dtl. Der Weg zur bundesrepublikan. Erinnerung 1948-1990 (1999);
 G. H. Hartman: Der längste Schatten. Erinnern u. Vergessen nach dem Holocaust (a. d. Amerikan., Neuausgabe 2000);
 A. Margalit: Ethik der Erinnerung (a. d. Engl., 2000);
 
Polit. Mythen u. Rituale in Dtl., Frankreich u. Polen, hg. v. Y. Bizeul (2000);
 H. Weinrich: Lethe - Kunst u. Kritik des Vergessens (32000);
 
Dt. Erinnerungsorte, hg. v. É. François u. Hagen Schulze (3 Bde., 2001);
 G. Siegmund: Gedächtnis/Erinnerung, in: Ästhet. Grundbegriffe. Histor. Wb. in sieben Bden., hg. v. Karlheinz Barck u. a. (Bd. 2, 2001, S. 609-629);
 W. Soyinka: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet (a. d. Engl., 2001);
 F. A. Yates: Gedächtnis u. Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (a. d. Engl., Neuausg. 62001).


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