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ATONALITÄT, DIE TENDENZ DES MATERIALS UND NEUE TONALITÄT

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Atonalität, die Tendenz des Materials und Neue Tonalität
 
Die Wortbildung »Atonalität« ist kein Terminus, der einen Sachverhalt unmittelbar evident benennt. Vielmehr umschreibt sie den Umgang mit musikalischen Erfahrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die bis heute unvermindert verstören. Richtete sich diese Bezeichnung in der französischen Musikkritik schon vor der Jahrhundertwende polemisch gegen impressionistische Klangfarbenmusik, wurde sie im deutschsprachigen Bereich nach 1900 im abwertenden Sinne vor allem auf die Musik Schönbergs und seiner Schüler angewandt und ist heute unvermindert aktuell. Wie Alban Berg sich 1930 im Radiointerview »Was ist atonal?« erinnert, entstand »diese Bezeichnung »atonal« zweifellos in der Absicht, herabzusetzen, so wie dies bei den zur selben Zeit aufgebrachten Worten, wie arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch der Fall ist. Während sich aber diese Worte nur zu einer gelegentlichen Kennzeichnung spezieller Fälle eigneten, wurde die Bezeichnung »atonal« - ich muss schon sagen leider - zu einem Sammelbegriff für eine Musik, von der man nicht nur annahm, dass sie keine Bezogenheit zu einem harmonischen Zentrum hat (um mich des von Rameau eingeführten Begriffes der Tonalität zu bedienen, sondern dass sie auch allen anderen Erfordernissen der Musik, wie Melodik, Rhythmik, formaler Gliederung, im Kleinen und im Großen nicht entspricht, sodass die Bezeichnung heute eigentlich soviel heißt, wie keine Musik, ja wie Unmusik. Tatsächlich stellt man sie ja auch in völligen Gegensatz zu dem, was man bisher unter Musik verstand.«
 
Musikstücke seit etwa 1910, die sich in unterschiedlicher Weise von den Prinzipien der Dur-Moll-Tonalität und den damit zusammenhängenden Klang- und Formbildungen entfernten, sind atonal in dem Sinne, dass die Grundtonbezogenheit der Tonalität bewusst kompositorisch verhindert wird. So wie im Wort Atonalität das Wort Tonalität enthalten ist, ist im Prinzip der Atonalität das Prinzip der Tonalität, als zu vermeidender Bezugsrahmen, enthalten. Ein Zusammenklang wie der aus dem Beginn der Klavierbegleitung von Anton Weberns George-Lied opus 3 Nr. 1 (»Dies ist ein Lied für dich allein«) stiftet in diesem Sinne Atonalität: Mit dem Basston E konsoniert nur das h im oberen System, die darüber liegenden Töne es-b-d sind dazu dissonant, wobei die vier Töne des oberen Systems symmetrisch zu großer Terz - Quinte - großer Terz verbunden sind, gleichzeitig aber auch zwei ineinander verschachtelte große Septimen h-b und es-d bilden. Ein Klang wie dieser lässt keine Auflösung erwarten.
 
Eine Sichtweise, deren Faszination vom Schönberg-Kreis über Adornos Geschichtsphilosophie bis heute ungebrochen ist, akzentuiert die vermeintlich geschichtslogische Notwendigkeit der Entstehung der Atonalität. Als »Erklärung« hält der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht sein »informationsästhetisches Prinzip der Kompositionsgeschichte« parat. Unter Berufung auf den immer wieder zitierten Tristan-Akkord, jenes tonal nicht eindeutig analysierbare dominantische Klanggebilde im zweiten Takt von Wagners »Tristan«-Vorspiel, liest sich Eggebrechts perspektivische Geschichtsdeutung folgendermaßen: »Das System der tonalen Melodik und Harmonik wurde ausgeschöpft (gleichsam ausgebeutet) bis zu seinen Grenzen hin und ansatzweise auch schon immer wieder über seine Grenzen hinaus, bis dann als erster Arnold Schönberg daraus die Konsequenzen zog. Man kann also sagen, dass die Atonalität, dieses Heraustreten der Musik aus der insgesamt tonalen Tradition der abendländischen Musik, schon auf der Ebene des intern musikgeschichtlichen, des informationsästhetischen Prozesses eine folgerichtige, sozusagen geschichtslogische Erscheinung darstellt, deren Auftreten in der Zeit des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts reif geworden war.«
 
Das aus fünf Quarten bestehende Hornsignal zu Beginn von Schönbergs »Kammersymphonie op. 9« (1906) erscheint in dieser Sicht als »neu entdecktes Mittel« Schönbergs, »das System des terzenweisen Aufbaus der Akkorde durch ein neues und reichhaltigeres System zu ersetzen und dabei zugleich die Musik aus den tonalen Bindungen zu lösen.« Dabei hatte Schönberg selbst sein »Ausdrucksbedürfnis (stürmischer Jubel)« als Entstehungsgrund für diese Quarten hervorgehoben und betont, die Quartenakkorde seien »Akkorde wie alle anderen.« Beispiel um Beispiel ließen sich in dieser Weise aus der jüngeren Musikgeschichte bis zur Gegenwart aneinander reihen: Zwölftonakkorde, Cluster, Vierteltonklänge oder weißes Rauschen. Und diese Aneinanderreihung würde in eindrucksvoller Weise so etwas wie die Überwindung der tonalen Harmonik suggerieren. Doch sie bleibt eine geschichtsphilosophische Konstruktion, genau wie Adornos folgenreicher »Materialbegriff«.
 
Adorno sprach, mit wechselnden Akzenten, stets von der »geschichtlichen Tendenz der musikalischen Mittel«, die mit dem »Stand des Geistes« verbunden sei und darüber entscheide, ob die Werke »gültig« sind. Mit diesen geschichtsphilosophischen Argumenten begründete dann Karlheinz Stockhausen Anfang der Fünfzigerjahre sein serielles Komponieren als radikale Suche nach neuem Material und gleichzeitige Absage an die unmittelbare Klangvorstellung: »Auf die unmittelbare Klangvorstellung kann man sich nicht mehr verlassen. Die Klangvorstellung ist durch alle Musik bestimmt, die man bisher gehört hat. Wenn sie weiterhin Gültigkeit hätte, müsste man sich auch weiterhin der klassischen Ordnung fügen. Materialgerecht denken: Übereinstimmung der Formgesetze mit den Bedingungen des Materials. Die Idee der neuen Form lässt sich aber nicht mit den Bedingungen des alten Materials vereinbaren. Also muss man ein neues Material suchen.« Und sein gleichaltriger französischer Kollege Pierre Boulez urteilte etwa zur selben Zeit, dass alles Komponieren, das nicht den seriellen Prinzipien folge, nicht »zeitgemäß« und nicht »gültig«, ja »unnütz« sei. Allem Nachdenken über Anzeichen einer »Abkehr vom Materialdenken« etwa in den Siebzigerjahren zum Trotz, hielten und halten Komponisten wie Helmut Lachenmann und andere daran fest, dass einem von Werk zu Werk neues Material zu begegnen habe.
 
Problematisch an der Konstruktion einer »geschichtslogischen« Wende hin zur Atonalität Anfang des 20. Jahrhunderts ist einmal die Beschränkung auf immer dieselben Musikbeispiele, noch dazu meist auf herausgeschnittene Einzelklänge. Hinzu kommt die Ausblendung all jener musikalischen Phänomene, die nicht ins Bild passen. Der vereinzelte Anfangsakkord des Webern-Liedes lässt sich so als »Stiftung von Atonalität« interpretieren und dem - ebenfalls herausgeschnittenen - Tristanakkord gegenüberstellen (Atonalität, welche die ausgeschöpfte Harmonik überwindet). Doch eröffnet dieser offene Klang aus fünf Tönen ein »Fließend« und »Zart bewegt« zu singendes Lied, in dem fallende seufzerartige Sekunden und andere Elemente die enge Verbindung mit der tonalen Tradition hörbar machen.
 
Jenseits des selektiven Blicks auf Beispiele von Atonalität zeigt sich, dass Komponisten außerhalb des Schönberg-Kreises zur selben Zeit in ganz anderer, sehr unterschiedlicher Weise Konsequenzen aus dem Vorangegangen gezogen haben, sodass es keineswegs eindeutig erscheint, dass tatsächlich die Musik »aus der insgesamt tonalen Tradition der abendländischen Musik« herausgetreten ist. Eine ganz andersartige Ausweitung der traditionellen Harmonik in Richtung klanglicher Farbwechsel zeigen etwa die Werke von Jean Sibelius dieser Zeit: Im ersten Satz seiner Fünften Symphonie etwa (drei Versionen 1915, 1916, 1919) konfrontiert er das tonale Zentrum Es-Dur mit G-Dur und H-Dur, wodurch der Oktavraum in drei große Terzen unterteilt ist. Diese Farbwechsel, unter häufiger Verwendung von instabilen Quartsext- und Terzsextakkorden, treten anstelle der traditionellen Tonika-Dominant-Harmonik. Debussy andererseits arbeitet mit indifferenten Klangflächen über fünf- und sechstönige Skalen und schafft so eine eigene Grundtonlosigkeit. Schließlich finden auch weitab von Wien Komponisten in verschiedener Weise zum Experimentieren mit dem chromatischen Total. In Nikolas Obuchows »Livre de vie« etwa kommt innerhalb der einzelnen Abschnitte in den Singstimmen wie in den Instrumenten kaum ein Ton zweimal vor, erklärt der Komponist doch ausdrücklich: »Ich verbiete mir jede Verdopplung; meine Harmonik beruht auf zwölf Tönen, deren keiner mehrfach verwendbar ist. Verdopplungen erzeugen einen Eindruck von Kraft ohne Klarheit; sie stören und verschmutzen die Harmonie.«
 
Während gleichzeitig Aleksandr Skrjabin in seinem »Prometheus« seine mystische Licht-Chromatik systematisierte, Sibelius seine Vierte Sinfonie und Mahler seine Neunte Sinfonie schrieben, konzipierte 1908 im amerikanischen Connecticut der zu Lebzeiten ungespielte und ungeehrte Charles Ives eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Krise der Tonalität: »The Unanswered question/Die offene Frage«. Leonard Bernstein münzte Ives' metaphysisches Programm um in die Frage nach der Zukunft der Musik - nach dem Dilemma der mancher Verfeindungen von tonalen und nichttonalen Komponisten.
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
Literatur:
 
Dahlhaus, Carl: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Einleitung von Hans Oesch. Mainz u. a. 1978.
 Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.
 Dibelius, Ulrich: Moderne Musik nach 1945. Erweiterte Neuausgabe München u. a. 1998.
 Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, bearbeitet von Maja Bard u. a. Stuttgart 31982.


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