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EULER: WERDEGANG, PERSÖNLICHKEIT UND WERK DES GELEHRTEN

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Euler: Werdegang, Persönlichkeit und Werk des Gelehrten
 
Die geistige Epoche des Spätbarock, in die Leonhard Euler hineingeboren wurde, ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass die Mathematik noch keine eigentliche Fachdisziplin im modernen Sinne, sondern als kardinale Wissenschaft geradezu eine Philosophie, ein Weltbekenntnis repräsentierte. Eine von der philosophischen getrennte »mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät« gab es an den Universitäten damals noch nicht, und die Beziehungen etwa zwischen der Mathematik und der Theologie waren bis tief ins 18. Jahrhundert hinein noch recht eng. Seit dem gewaltigen, von Giordano Bruno auf kopernikanischer Grundlage angekündigten, von Männern wie Francis Bacon, Galilei, Kepler, Descartes und Hobbes vorbereiteten und von Gestalten vom Format eines Newton, Leibniz, Huygens, Locke, Spinoza kühn vollzogenen Umbruch standen sich — auf einem breiteren Frontabschnitt wenigstens — nunmehr Empiristen und Rationalisten unversöhnlich gegenüber. Auch der dialektische Vollzug des Überganges von der statischen Naturauffassung scholastischer Prägung zu einem in allen Bereichen des Geistes, naturgemäß jedoch primär in den mathematischen Wissenschaften realisierten, dynamischen Funktionalismus von Galilei bis Newton und Leibniz vermochte die Brücke nicht zu schlagen.
 
Mit der ersten formalen Ausgestaltung, Hand in Hand gehend mit steter substanzieller Bereicherung des von den großen Antagonisten in grandiosem Wurf konzipierten Infinitesimalkalküls, der die Naturvorgänge nun in ihrem Bewegungsablauf zu erfassen gestattete, entdeckten ein paar Forscher — mit in der vordersten Frontlinie das Basler Brüderpaar Jakob und Johann Bernoulli — ein neues, unermessliches Reich, das es nun zu kolonisieren galt. Die Rolle des ersten Kolonisators großen Stils, den Konquistadoren nach Kolumbus vergleichbar, sollte dem Basler Leonhard Euler zufallen.
 
 Die Basler Zeit
 
Leonhard Euler wurde am 15. April 1707 als Sohn des reformierten Pfarrers Paul Euler in Riehen bei Basel geboren. Er war durchaus kein Wunderkind etwa im Sinne Mozarts oder Albrecht von Hallers, doch entwickelte sich seine außergewöhnliche Erfindungskraft schon früh, und als er, dreizehnjährig, die Basler Universität bezog, war es ihm dank seinem hartnäckigen, mit einem phänomenalen Gedächtnis gepaarten Arbeitswillen ein Leichtes, sich in der Arena der freien Künste und Wissenschaften zurechtzufinden. Das Gymnasium konnte dem Knaben in mathematischen Belangen so viel wie nichts bieten, hingegen geriet Leonhard durch seinen Vater, der während seines Theologiestudiums einige mathematische Vorlesungen bei Jakob Bernoulli gehört hatte, wie auch durch den Privatunterricht des jungen Theologen Johannes Burckhardt schon als Kind in den Bannkreis der Mathematik, wie zwei seiner Schülerarbeiten zeigen. Doch zur Flamme entfacht wurde die Glut erst durch den besten Lehrer, den die mathematische Welt Euler damals zu stellen vermochte: durch Johann Bernoulli. Dieser war nach dem Tod von Leibniz und seit Newtons altersbedingtem Rückzug aus der Domäne der Mathematik unbestrittener »Princeps Mathematicorum«; er entdeckte frühzeitig die wahrhaft genialen Anlagen des jungen Euler und förderte diesen zunächst dadurch, dass er ihm die Werke der alten und neuen Meister in die Hand gab, später jedoch direkt durch die sonnabendlichen Privatissima, in deren Verlauf der Altmeister bald einmal den werdenden noch Größeren entdecken sollte. Tatsächlich müssen die Fortschritte und Studienerfolge Eulers hinreißend gewesen sein. Noch nicht fünfzehnjährig, tritt er als Respondent eines Logikprofessur-Aspiranten auf, und kaum ein Jahr später vergleicht er anlässlich seines Magisterexamens in seinem ersten öffentlichen Vortrag die Weltsysteme von Descartes und Newton, ein auch später noch lange im Brennpunkt der großen wissenschaftlichen Diskussionen liegendes Thema, denn die »kartesische Wirbeltheorie« ließ sich mit Newtons Gravitationslehre und deren mathematischen Konsequenzen nicht in Übereinstimmung bringen.
 
 Meisterhafter Anfänger
 
Seine ersten mathematischen Abhandlungen schrieb Euler mit 18 und 19 Jahren, und sie wurden sogleich in der bestreputierten Zeitschrift Acta eruditorum in Leipzig gedruckt. Sie schlossen an die aktuellen Forschungen Johann Bernoullis an, und dieser quittierte sie mit einer geradezu prophetisch anmutenden öffentlichen Erwähnung des jungen Euler, »von dessen Scharfsinn wir uns das Höchste versprechen, nachdem wir gesehen haben, mit welcher Leichtigkeit und Gewandtheit er in die geheimsten Gefilde der höheren Mathematik unter unseren Auspizien eingedrungen ist.« Dieses öffentliche Urteil des sechzigjährigen Großmeisters über den zwanzigjährigen Euler ist im Hinblick auf den Charakter und die gewohnten Verhaltensweisen Bernoullis gegenüber fast allen Zeitgenossen — seine Söhne nicht ausgenommen — überraschend, ja sensationell. Die Anreden in den Briefen Bernoullis an Euler sind kennzeichnend für die grenzenlose Verehrung des alten Meisters für seinen Schüler, die 1745 in den Worten gipfelten: »Dem unvergleichlichen Leonhard Euler, dem Fürsten unter den Mathematikern«. Mögen die »flandrische Rauflust« und der ausgeprägte wissenschaftliche Ehrgeiz des oft bissigen und neidischen Johann Bernoulli auch manch hässliche Blüte getrieben haben, so muss ihm doch das hohe historische und moralische Verdienst zugesprochen werden, Euler entdeckt und entscheidend gefördert, protegiert und — vor allem! — über sich geduldet zu haben.
 
Die Basler Periode Eulers ist ferner gekennzeichnet durch zwei Arbeiten, die wegen ihrer Signifikanz nicht unerwähnt bleiben sollen: Er besaß die Kühnheit, die von der Pariser Akademie 1726 öffentlich gestellte Preisfrage nach der günstigsten Bemastung eines Schiffes mit einer lateinischen Abhandlung zu beantworten — er, »der jugendliche Bewohner der Alpen« (Condorcet), der außer Fracht- und Fährschiffen und den einfachen Weidlingen auf dem Rhein noch nie ein Schiff zu Gesicht bekommen hatte! Der erste Preis wurde zwar dem schon damals berühmten Physiker, Astronomen und Geodäten Pierre Bouguer zugesprochen, doch wurde Eulers Arbeit mit einem »Accessit«, was dem zweiten Preis entsprach, bedacht und auf Kosten der Akademie gedruckt. Bezeichnend für Eulers Einstellung zur Natur ist der stolze Schlussparagraph dieser Arbeit: »Ich habe nicht für nötig gehalten, diese meine Theorie durch das Experiment zu bestätigen, denn sie ist aus den sichersten und unangreifbarsten Prinzipien der Mechanik abgeleitet, weshalb der Zweifel, ob sie wahr sei und in der Praxis statthabe, in keiner Weise aufgeworfen werden kann.« Dieses fast blinde Vertrauen in die Stringenz der Prinzipien und apriorischer Deduktionen begleitete Euler bis ins hohe Alter und kennzeichnet ein Paradigma seines Schaffens, obwohl er zuweilen auch zum Experiment gegriffen hat.
 
Mit seiner Dissertation Über den Schall bewarb sich Euler im Frühjahr 1727 um die eben frei gewordene Physikprofessur in Basel, kam jedoch — wohl seiner Jugend wegen — nicht einmal in die Ränge, obwohl er vom einflussreichen Johann Bernoulli unterstützt wurde. Dieser Misserfolg erwies sich jedoch — aus späterer Sicht — als großes Glück, denn nur dadurch konnte Euler erreichen, was seinem Lehrmeister zeitlebens versagt blieb: ein seinem Genius und Tatendrang adäquates Wirkungsfeld in der großen Welt, und genau das fand er in der aufstrebenden Stadt Peters des Großen, im »Venedig des Nordens«.
 
 Erste Petersburger Periode
 
Sankt Petersburg, den Sümpfen der Newamündung am finnischen Meerbusen entwachsen und quasi geometrisch nach den großzügigen Plänen Peters und seiner Architekten erbaut, war damals nicht nur Reichshauptstadt und Brennpunkt des russischen Außenhandels, sondern auch geistiges Zentrum der russischen Aufklärung im Sinne ihres Gründers. Als Zar Peter I. seine Akademie der Wissenschaften ins Leben rief und die bedeutendsten ausländischen Fachgelehrten zu gewinnen suchte, waren die Brüder Niklaus II und Daniel Bernoulli mit ihrem älteren Kollegen Jakob Hermann die Ersten am Platze (1725), und gewissermaßen in ihrem Kielwasser rückte Euler nach (1727).
 
Wie seine Tagebücher zeigen, machte sich Euler — im Gegensatz zu den meisten ausländischen Kollegen — sofort ans Studium der russischen Sprache, um sich schriftlich und mündlich frei ausdrücken zu können. Er gewöhnte sich rasch und leicht an die neuen Lebensbedingungen und nahm regen Anteil an den vielfältigen Aktivitäten der Akademie. Diese hatte, als wichtige staatliche Einrichtung, unter anderem den Auftrag, einerseits am Gymnasium und an der Universität der Akademie nationale wissenschaftliche Kader heranzubilden, andererseits verschiedenartigste technische Aufgaben zu lösen und Regierungsaufträge zur Erforschung des Russischen Reiches und dessen natürlicher Reichtümer auszuführen.
 
Von den heißen Kämpfen um die Toleranz in Russland, die unmittelbar nach dem Tod Peters des Großen einsetzten, blieb natürlich auch die junge Akademie nicht ganz verschont; die Gegensätze unter den aufgeklärten Professoren selbst traten allerdings — nach westeuropäischem Muster — vorwiegend im Spannungsfeld zwischen dem leibnizischen Rationalismus wolffscher Prägung einerseits und dem englischen Empirismus newton-lockescher Observanz andererseits offen zutage. Wortführer der Rationalisten in Petersburg war der Tübinger Logiker und Philosoph G. B. Bülfinger, und auf Newtons Seite kämpfte Euler mit Daniel Bernoulli. Doch blieben Eulers Haupt- und Lieblingsbeschäftigung auch in dieser Periode die mathematischen Wissenschaften, obwohl sein Anteil am Aufbau der Akademie unschätzbar groß war: Seit 1735 war er Mitglied des geographischen Departements, in welcher Eigenschaft er eine Generalkarte des gesamten russischen Reiches vorzubereiten hatte. Zudem war er maßgeblich an den Vorbereitungen der denkwürdigen Kamtschatka-Expedition (1733—1743) beteiligt, und dazu oblag ihm noch die Abfassung elementarmathematischer Lehrmittel für das Gymnasium. Dennoch ist Eulers rein wissenschaftliche Produktion in der ersten Petersburger Periode gewaltig: Bis zu seinem Weggang nach Berlin (1741) erschienen über 50 Arbeiten im Druck, darunter die epochale zweibändige Mechanik, die als eigentliches Hauptwerk dieser Frühperiode angesprochen werden muss und nach Inhalt und Form einen Markstein in der Geschichte der Wissenschaft darstellt. Signifikant für den kometenhaften Aufstieg Eulers am mathematischen Firmament ist der Petersburger Akademieband des Jahres 1736: Von den dreizehn darin enthaltenen mathematischen Abhandlungen entfallen deren zwei auf Daniel Bernoulli, die restlichen elf entstammen der Feder Eulers.
 
Welche Gründe haben nun aber Euler zu seinem Abschied von Petersburg bewogen, obwohl er sich dort offensichtlich wohl fühlte und die einzigartigen Arbeitsmöglichkeiten in der Newastadt überaus schätzte? Er selbst schildert die Sache in seiner kurzen Autobiografie so: »... Als hierauf A[nno] 1740 Seine noch glorreich regierende Königl. Majestät [Friedrich II.] in Preußen zur Regierung kamen, so erhielt ich eine allergnädigste Vocation nach Berlin, welche ich auch, nachdem die glorwürdige Kayserin Anne verstorben war, und es bey der darauffolgenden Regentschafft ziemlich mißlich auszusehen anfieng, ohne einiges Bedenken annahm. ..«. Sicherlich war die Zuspitzung der innenpolitischen Situation in Russland ein gewichtiger Grund für Euler, das Land zu verlassen. Nach dem Tod Anna Iwanownas (Ende 1740), der Inthronisierung des Säuglings Iwan VI., dem »Münnich-Ostermann-Putsch« und der Palastrevolution von 1741, die Elizaweta Petrowna für zwanzig Jahre auf den russischen Thron bringen sollte, sah die Sache im Zuge der »Russifizierung« durch Peters Tochter für die »Ausländer« gewiss nicht rosig aus, doch hätte Euler im Hinblick auf seine Verdienste um Russland im Allgemeinen und die Akademie im Besonderen wahrscheinlich nichts Ernstes befürchten müssen. Es gab allerdings noch einige andere Gründe für Eulers Abgang. Ende Juli 1741 kam Euler mit seiner noch kleinen Familie in Berlin an, im Reisegepäck die Berufungsurkunde König Friedrichs II., in welcher ihm ein Jahressalär von 1 600 Talern nebst Erstattung der Reisekosten in der Höhe von 500 Talern zugesichert war.
 
 In Friedrichs Preußen
 
Friedrich II. schmiedete bereits zu Beginn seines Machtantritts (1740) große Pläne zur Errichtung einer neuen Akademie in Berlin, die sich neben den bereits bestehenden akademischen Institutionen in London, Paris und Petersburg wohl sehen lassen könnte, und davon hatte der neue Preußenkönig auch Euler bereits in Petersburg in Kenntnis setzen lassen. Euler wollte in Berlin in erster Linie arbeiten und war voller Pläne und Ideen. Hingegen stand Friedrich zur Zeit von Eulers Ankunft in einer schweren, von ihm selbst herbeigeführten kriegerischen Auseinandersetzung mit der Donaumonarchie (Erster Schlesischer Krieg), und bekanntlich »schweigen die Musen im Waffengetöse«. So erwies sich die Schaffung der Berliner Akademie als Zangengeburt. Auf der Basis der anno 1700 von Kurfürst Friedrich III. gestifteten »Kurfürstlich-Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften« entwickelte sich die erste — deutlich national geprägte — Akademie unter dem Namen »Königlich Preußische Sozietät der Wissenschaften«, doch verkümmerte sie merklich unter der Regierung Friedrich Wilhelms I., des »Soldatenkönigs«. In der Folge wurde sie von Friedrich II. mit der 1743 gegründeten Schwestergesellschaft »Nouvelle Société Littéraire« fusioniert und dann im Januar 1746 — nach Beendigung des Zweiten Schlesischen Krieges — mit dem neuen Statut unter dem Präsidium von Maupertuis als »Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres« feierlich eröffnet und durchgängig »französisiert«. Euler nutzte die Muße der ersten Berliner Jahre trefflich: Er verfasste sein eigentliches mathematisches Meisterwerk, die Variationsrechnung, sowie die zweiteilige Introductio, die Einleitung in die Analysis des Unendlichen. Diese — der eigentliche Beginn der Funktionentheorie — war der Startschuss für eine große Trilogie, die zusammen mit der Differentialrechnung und der Integralrechnung eine großartige Synopsis der wichtigsten mathematischen Entdeckungen in der Analysis bis weit über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus darstellt und die für Generationen zum Vorbild und Fundament der mathematischen Lehrbuchliteratur geworden ist.
 
Friedrich II. suchte nun einen Präsidenten für seine Akademie, den er in Pierre-Louis Moreau de Maupertuis fand. Dessen wissenschaftlicher Ruhm gründete sich auf die spektakuläre Lapplandexpedition von 1736, deren mittels einer Gradmessung gewonnenes Hauptresultat in der Entscheidung der alten Streitfrage bestand, ob die Erde an den Polen zugespitzt (Cassini) oder abgeplattet (Newton) sei. Die Messung gab Newton Recht, die Geometrie wurde in die Salons getragen und populär wie nie zuvor, und der Expeditionsleiter Maupertuis avancierte für einige Zeit zum gefeiertsten Mann in Paris. Das alles schien ihm den Kopf allzu sehr verdreht zu haben, und zwanzig Jahre später sollte er das bedauernswerte Opfer seiner übersteigerten Eitelkeit werden, nämlich in der Kontroverse um das »Prinzip der kleinsten Wirkung« mit dem Schweizer Johann Samuel König.
 
 Eulers Charakter
 
Einem Ckaraktervergleich mit Euler — vom wissenschaftlichen Werk ganz zu schweigen — hält Maupertuis in keiner Weise stand. Der Gegensatz ist fast kontradiktorisch: Euler war sehr bescheiden und kannte nie Prioritätshändel, ja er verschenkte zuweilen generös neue Entdeckungen und Erkenntnisse. In seinen Werken versteckt er nichts, sondern legt die Karten stets offen auf den Tisch und bietet dem Leser die gleichen Voraussetzungen und Chancen, Neues zu finden, ja er führt den Leser oft bis dicht an die Entdeckung hinan und überlässt ihm die Entdeckerfreuden — die einzig wahre Pädagogik. Das macht Eulers Bücher dem Lernenden zum Erlebnis, unterhaltsam und spannend zugleich. Das Gefühl des Neides muss diesem erstaunlichen Menschen absolut fremd gewesen sein. Er gönnte jedem alles und freute sich stets auch an neuen Entdeckungen anderer. Dies alles war ihm nur möglich, weil er geistig so unermesslich reich und psychisch in selten anzutreffendem Maße ausgeglichen war. Nicht zuletzt deshalb war mit Euler leicht auszukommen: Er war von offenem und heiterem Gemüt, unkompliziert, humorvoll und gesellig, frei von jeglichem Dünkel, niemals nachtragend, dabei selbstbewusst, kritisch und draufgängerisch. Zuweilen konnte er leicht aufbrausen, um sich jedoch rasch wieder zu beruhigen, ja über seinen eigenen Ausbruch zu lachen. In einem Punkt aber verstand er keinen Spaß: in der Frage der Religion und des christlichen Glaubens. Eulers Strenggläubigkeit ist tatsächlich der Schlüssel zum Verständnis vieler wichtiger Fakten und Verhaltensweisen in seinem Leben.
 
Der einzige bekannte schwarze Fleck auf Eulers sonst blendend weißer Weste ist seine völlig unverständliche, will heißen: bis heute nicht vollständig geklärte Haltung gegen seinen sympathischen Landsmann J. S. König im Streit um das erwähnte »Prinzip der kleinsten Wirkung«, in dessen Verlauf Euler mit Maupertuis, einzig gestützt von Friedrich II. — und desavouiert von seinen Schweizer Akademiekollegen! — sozusagen allein in ungerechter Sache gegen die ganze, von Voltaire angeführte Gelehrtenrepublik stehen zu müssen glaubte. Dieser unschöne Streit wirkte sich zwar auf Eulers Leben nicht nennenswert aus, doch den Akademiepräsidenten Maupertuis sollte das von Voltaire in seiner Diatribe du Docteur Akakia, médécin du Pape (1753) verspritzte Gift an den Rand des Grabes bringen. Maupertuis starb 1759 im Haus seines Freundes Johann II Bernoulli in Basel.
 
 Zurück nach Russland
 
Euler amtete zwanzig Jahre lang als Direktor der mathematischen Klasse, und seit Maupertuis' Tod oblag ihm gar die Leitung der ganzen Akademie — nicht nominell zwar, aber substanziell —, ohne jedoch von Friedrich je zum Präsidenten ernannt worden zu sein. Hierin den Hauptgrund von Eulers schließlicher Rückkehr nach St. Petersburg zu sehen, wäre verfehlt: Nebst mehreren anderen Gründen war eines der entscheidenden Motive das grundsätzlich gestörte Verhältnis Friedrichs zu allem, was er nicht verstand, und dies betrifft in erster Linie die Mathematik. Verständlicherweise konnte sich ein Aufklärer enzyklopädischer Observanz im 18. Jahrhundert von Eulers ewigen biederprotestantischen Anwürfen gegen die »elenden Freygeister« mit der Zeit enerviert fühlen, und sicher bestand Eulers weltgeschichtliche Leistung nicht »in der kraftvollen Verteidigung des damals tief verachteten Christentums«, wie man zuweilen lesen kann, doch durfte König Friedrich daraus gewiss nicht das Recht ableiten, dem Schweizer Bürger Euler zunächst die Annahme des Petersburger Rufes zu verweigern (»und sei es mit Gewalt«) und ihn erst nach Intervention der Kaiserin Katharina II. ziehen zu lassen.
 
In Russland wurde Euler ein in jeder Beziehung triumphaler Empfang zuteil, leistete er doch während eines Vierteljahrhunderts unschätzbare Dienste als »goldene Brücke« zwischen den beiden Akademien von Berlin und Petersburg, wovon seine immensen Korrespondenzen ein ebenso deutliches Zeugnis ablegen wie die Tatsache, dass während seiner Berliner Zeit 109 Publikationen in den Petersburger Kommentaren aus seiner Feder stammten, gegenüber 119 in den Mémoiren der Berliner Akademie. In der Tat reichten Eulers Kräfte durchaus für eine vollwertige Tätigkeit an beiden Akademien aus, und keine von diesen hätte allein seine Schriften und Beiträge herausgeben können — selbst beide zusammen hatten es nicht leicht mit der Bewältigung der schier unerschöpflichen Flut seiner Produktionen.
 
Dazu erhielt Euler nun in Petersburg offiziell die Stellung, die er schon während der Berliner Jahrzehnte eingenommen hatte: als Spiritus Rector des wissenschaftlichen Betriebes der Petersburger Akademie. Daneben übernahm er — wie schon in seiner ersten Petersburger Zeit — die Funktionen eines Experten und Konsultanten bei technisch-praktischen Problemen und Projekten, und als ältestem der Akademiemitglieder oblag ihm auch die Leitung der Akademiesitzungen, die sein Sohn Johann Albrecht seit 1769 als Sekretär zu protokollieren hatte. Ohne Zweifel war Euler das prominenteste Mitglied des neuen leitenden Organs der Akademie, einer nur dem Direktor unterstellten Kommission. In St. Petersburg starb er schließlich auch am 18. September 1783 an den Folgen eines Schlaganfalls.
 
 Die Algebra: Mathematik für Jedermann
 
Höchstwahrscheinlich noch in seiner Berliner Zeit begann Euler mit der Abfassung seines wohl populärsten mathematischen Buches, des zweibändigen Werkes Vollständige Anleitung zur Algebra. Dieses Werk — besonders bestechend im Hinblick auf Eulers meisterliche didaktische Geschicklichkeit — wurde wahrhaftig ein Bestseller. Es erschien 1768/69 zuerst in russischer Übersetzung, dann 1770 in der deutschen Urfassung, 1774 in der französischen Übertragung von Johann III Bernoulli und schließlich in englischer und holländischer Sprache in vielen Auflagen. Diese Algebra führt den absoluten Anfänger Schritt für Schritt von den natürlichen Zahlen über die arithmetischen und algebraischen Grundsätze und Praktiken über die elementare Gleichungslehre bis in die sublimsten Details der unbestimmten Analytik (diophantische Gleichungen) ein; sie gilt noch immer als die beste Einführung in das Gebiet der Algebra für einen »mathematischen Säugling«, und sinnigerweise wurde die »Große Euler-Ausgabe« 1911 mit diesem Band eröffnet. Der kongeniale Mathematiker Joseph-Louis Lagrange, Eulers Nachfolger an der Berliner Akademie, fand es nicht unter seiner Würde, das Werk in der ersten französischen Ausgabe mit wertvollen Zusätzen im Umfang von etwa 300 Seiten zu versehen.
 
Die weiteste Verbreitung im deutschen Sprachraum erlebte die Algebra durch ihre Aufnahme in Reclams Universal-Bibliothek, wo sie als einziges mathematisches Buch figuriert und von 1883 bis 1942 in 108 000 Exemplaren gedruckt wurde. Einen vergleichbaren Verkaufserfolg auf mathematischem Gebiet hat in der ganzen Kulturgeschichte nur ein anderes Werk zu verzeichnen: die Elemente von Euklid, das auflagenstärkste Buch nach der Bibel.
 
 Philosophie und Naturerkenntnis
 
Eulers philosophisches Vermächtnis bilden die Briefe an eine deutsche Prinzessin, die 1760—1762 an die jugendliche Markgräfin Sophie Charlotte von Brandenburg-Schwedt in französischer Sprache im Auftrag von deren Vater geschrieben wurden. Diese Lettres erschienen in Petersburg 1768 und 1772 in drei Bänden im Druck und wurden zu einem Schlager: Sie wurden rasch in alle Kultursprachen übersetzt und bildeten für lange Zeit die meistverbreitete Synopsis populärer naturwissenschaftlicher und philosophischer Bildung. Diese 234 Briefe umspannen Musiktheorie, Philosophie, Mechanik, Optik, Astronomie, Theologie und Ethik fast gleichermaßen und gipfeln im Widerlegungsversuch des absoluten Idealismus im Sinne von George Berkeley und der Konzeptionen von David Hume (Brief 117), sowie in einer groß angelegten Attacke gegen die damals stark verbreitete Monadenlehre wolffscher Prägung (Briefe 122—132), die leider allzu oft mit derjenigen von Leibniz identifiziert wird.
 
Eulers Stellung in der Geschichte der Philosophie ist bis in unsere Tage umstritten, und es ist nicht unbedingt rein zufällig, dass die extremsten Positionen in dieser Problematik ausgerechnet von zwei Basler Mathematikern eingenommen worden sind, nämlich von Otto Spiess (1878—1966) und Andreas Speiser (1885—1970). Ersterer schließt sich vehement dem Urteil der prominentesten Zeitgenossen Eulers an, nach dem es »unglaublich ist, dass ein so großes Genie in der Geometrie und der Analysis in der Metaphysik noch unter dem kleinsten Schüler steht, um nicht von so viel Plattheit und Absurdität zu sprechen. Es lässt sich wohl sagen: Nicht alles haben die Götter demselben gewährt« (d'Alembert in einem Brief an Lagrange), und Euler musste sich in diesem Zusammenhang von seinem besten Freund, Daniel Bernoulli, sagen lassen: »Sie sollten sich nicht über dergleichen Materien einlassen, denn von Ihnen erwartet man nichts als sublime Sachen, und es ist nicht möglich, in jenen zu excellieren.«
 
Spiess sieht den tieferen Grund von Eulers Parteinahme gegen die Wolffianer nicht in einer verstandesmäßigen, sondern in einer emotional bedingten Motivation: Die vehementen Angriffe des von lauter »Freigeistern« à la Voltaire, d'Argens und de la Mettrie umgebenen strenggläubigen und frommen Mathematikers gegen die Monadologie, die sogar die moralischen Entscheidungsfragen der Ratio zu unterwerfen drohte, sind als Apologie des Christentums aufzufassen, wie auch seine (1747 anonym erschienene) Schrift Rettung der göttlichen Offenbarung gegen die Einwürfe der Freygeister verdeutlicht. Speiser hingegen lässt mit Euler geradezu die moderne Philosophie beginnen, indem er Kant mit der eulerschen Schrift von 1748 Überlegungen über Raum und Zeit und den Lettres in direkter Abhängigkeit sehen möchte. Immerhin sind sich die meisten Philosophen darin einig, dass ein direkter Einfluss Eulers auf Kant wenigstens in zweifacher Hinsicht nicht geleugnet werden kann: erstens im Hinblick auf Eulers These, dass Raum und Zeit keine Abstraktionen aus der Sinneswelt darstellen, worauf Kant seine Transzendentale Aesthetik wesentlich gestützt hat, und zweitens hinsichtlich des von Euler 1750 postulierten und von Kant annektierten Satzes von der Impenetrabilität (Undurchdringlichkeit) der Materie, mit dem Euler gewisse Naturkräfte als »Nahkräfte« (kartesisch) im Gegensatz zur Hypothese der »Fernkräfte« (Newton) zu erklären versuchte. In diesem Punkt dürfte Euler seinerseits von Baumgartens Metaphysik (1739), die nachweisbar ihre starke Wirkung auf Kant ausgeübt hat, nicht unabhängig sein. Schließlich erkennt Euler insgeheim in seiner Stärke die Hauptschwäche seiner eigenen Philosophie: Es bleibt das Dilemma zwischen der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und der endlichen Teilbarkeit der Materie. Aus Anlass des Monadenstreites mag der Mathematiker Euler durch Provokation der Diskussion mitgeholfen haben, die Philosophie um die Mitte seines Jahrhunderts aus einer Sackgasse zu stoßen, und seine Wirksamkeit als »gemäßigter Aufklärer« steht — trotz seiner heftigen Opposition gegen gewisse Repräsentanten der französischen Aufklärung und trotz seiner konfessionellen Einschränkung — außer jedem Zweifel; sie ist aus der Geistesgeschichte des Abendlandes nicht wegzudenken.
 
Emil A. Fellmann
 
Leonhard Euler.
 
Literatur:
 
Otto Spiess: Leonhard Euler. Frauenfeld 1929.


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